
Im Buch Sandôkai, einem Urtext des Zen über die Einheit von Essenz und Erscheinungsform, schreibt Sekitō Kisen:
Alle Sinnesobjekte stehen in Wechselwirkung zueinander. Und doch sind sie nicht verbunden. Wechselwirkung führt zu Solidarität. Wenn nicht, bleibt jeder in seiner Position.
Wie bei so vielen Lehrgedichten der alten Zen-Meister verläuft die Erkenntnis zunächst über die Verwirrung. Manchmal vermag die Kunst, den Weg zu beleuchten. Sandôkai ist jetzt nach Murnau an den Rand der Berge gelangt – in Form einer gleichnamigen Malerei von Jon Groom, die als achtteilige Suite an den Wänden der Pulpo Gallery hängt. Vor diesen Bildern werde ich den Abend verbringen. An einer langen Tafel, tatsächlich der Stamm einer Eiche, in die der Blitz gefahren ist, sind wir zum Künstlerdinner zusammengekommen.
Das Sandôkai handelt von Gleichheit und Unterschieden, sagt Groom. So finden sich auf allen acht Bildern dieselben Farben, doch jeweils an anderen Positionen. Rätselhafte visuelle Pointen dieser Art machen seine Werke aus.


Kleine Aquarelle auf dem Tisch regeln die Sitzordnung. Diese Karten wird der Künstler später auf dem Galerieboden zu einem Yantra legen. Das Yantra, ein wiederkehrendes Motiv bei Groom, sei ein geometrisches Diagramm, erklärt er, und „wird zur Kontemplation verwendet. Die Malerei füllt den Raum zwischen den Worten, jene Bereiche, über die man nicht sprechen kann.“
Unter dem Titel The Survey Show ist ein bedeutender Ausschnitt aus seinem fünf Jahrzehnte umspannenden Œuvre nun in dieser interessanten Murnauer Galerie zu sehen. Pulpo wurde 2020 inmitten der Pandemie von Katherina und Nico Zeifang gegründet. Eine Destination Gallery sei Pulpo, so die beiden Kunstenthusiasten. Eher als schönes Ausflugsziel geeignet als zur schnellen Visite. Destination bedeutet außerdem Bestimmung, und offenbar ist ihre Bestimmung, dem pittoresken Marktflecken im Blauen Land eine mitunter hermetische Gegenwartskunst vom Kaliber Jon Grooms näherzubringen, die ihre Aura unaufdringlich entfaltet, wenn man ihr dafür Raum und Zeit gibt.

So wie diese großformatige Silber-Arbeit, auf deren Oberfläche das helle Galerielicht den metallisch glänzenden Farbauftrag zum Gleißen bringt. Ein Gefühl von changierender Anwesenheit und Abwesenheit macht sich breit, als stünde man vor einem venezianischen Spiegel, der über die Jahrzehnte blind geworden ist, und alle reflektierten Gesichter, Geschichten, Geheimnisse in sich einkapselt. Ist nicht das gemeint, wenn das Sandôkai von den Sinnen und ihren Objekten spricht, die eng miteinander verbunden sind und gleichzeitig voneinander unabhängig?
Oder wie die beiden Evidence Paintings, schon 1994 in Grooms großer Soloschau des Münchner Lenbachhauses präsentiert. Rechteckige Flächen in Pechschwarz und gebrochenem Weiß sind zu kompakten Formen zusammengeschlossen, die auf grauem, schneeweißem oder nachtschwarzem Grund schweben und dabei fast eine körperliche Wirkung erlangen. Es geht darum, was zwischen den Farben geschieht.
Bei der Erschließung seiner Bildwelten bietet Jon Groom gerne fernöstliche Weisheiten an. „Meine Gemälde sind leer und zugleich gefüllt“, sagt er. Und: „Abstraktion handelt vom Mysterium, eine Farbe neben die andere zu setzen.“ Das Arkanum lässt sich auch über einen Bezug zur Landschaft entschlüsseln, eine Naturerfahrung, die sich in dieser Gegend auf denkbar reizvollste Weise gestaltet und zahlreiche Künstlerinnen und Künstler angezogen hat.
Dunkle oder türkisgrüne Seen, blauer Dunst, die Farbfelder der Bauernhöfe, der grafische Minimalismus der Moore, sich schwarz gegen den Himmel abzeichnende Felswände. In Murnau wurde sich Wassily Kandinsky der Abstraktion bewusst, als er im Dämmerlicht seines Ateliers ein auf die Seite gekipptes Gemälde betrachtete und es ihm seltsam verfremdet erschien. Ganz allmählich entwickelte Kandinsky im bayerischen Voralpenland seine visuelle Sprache. Und auch für Jon Groom, der seit einigen Jahren in Bernried am Starnberger See lebt und arbeitet, ist diese Reise, die vor allem eine spirituelle ist, noch längst nicht beendet.
Text und Fotos © Alexandra González
Jon Groom – The Survey Show
14. September bis 10. November 2024
Pulpo Gallery
Obermarkt 15 // Murnau am Staffelsee
„Das Blaue Land hinter Glas“ heißt ein Kunst-Schwerpunkt, den vier Museen (Murnau, Kochel, Penzberg, Bernried) von Ende September bis Februar groß
eines Tages nahm Gabriele Münter, die in Murnau seit 1909 mit ihrem Lebensgefährten Wassily Kandinsky ein Landhaus hatte, einfach die Ettaler Gnadenmaria und die Madonna von Altötting aus ihrer Schnitzfigurensammlung. Und baute sie voller Hingabe als Motive in ihre expresssionistischen Gemälde ein. Die Blaue Reiterin machte auf diese Weise aus den vertrauten Alltagsdevotionalien etwas aufregend Neues. Zu sehen, wie auch rund 15 von Münters schönsten Hinterglasbildern, in
der aktuellen Ausstellung Gabriele Münter und die Volkskunst, bis 12. November,
Hinterglasbilder geschaffen – er fiel ja schon 1916. Gerade sein frühes Großformat in dieser Technik, „Landschaft mit Tieren und Regenbogen“ von 1909 (unten ein Ausschnitt), wirkt indes wie ein Potpourri der ikonischen Motive des ganzen frühen Blauen Reiters: Die Gouache auf Glas, collagiert mit Siberfolie und Papieren, versammelt Pferde, Pflanzen und Gestirne. Wenig bewegte die Künstler der beginnenden Moderne mehr als die friedliche Revolution einer kosmischen Einheit von Mensch und Tier.
Dieses Hinterglasmotiv war Marc selbst so wichtig, dass er es schon 1912 in der epochalen Schau in der Münchner Galerie Thannhauser zeigte. Heute kann das schöne Bild jederzeit im 1. Stock des Museums besucht werden; das Drumherum folgt dann erst im Oktober: Franz Marc – Landschaft mit Tieren und Regenbogen, Studioausstellung zur Entstehungsgeschichte (15.10.2017-18.2.2018, Kochel,
Schwimmsteg oder die Bootsanlegestelle des Kochelsees.
Stück. Bis in die 1950er Jahre. Der Rheinländer hatte sich 1911 von Franz Marc begeistern lassen und war nach Oberbayern in dessen Nachbarschaft umgezogen, später weiter nach Seeshaupt am Starnberger See. Gisela Geiger leitet in Penzberg, also praktisch nebenan, unsere dritte Station: die erst 2016 eröffnete Sammlung Campendonk. Sie verantwortete auch den neuen Catalogue Raisonné und schätzt darin Campendonks lange übersehene Glasgemälde einerseits wegen „der Steigerung der Leuchtkraft der Farben“, andererseits wegen der „subtil eingesetzten grafischen Strukturierung“ als Höhepunkte in seinem Gesamtwerk ein. Heinrich Campendonk, Die Hinterglasbilder, 244 Seiten, 467 farbige Abbildungen, sieben Textbeiträge zu Motiven, Technik und Materialien, Wienand Verlag, 49,90 € (Cover-Ausschnitte oben und u. l.). Das großformatige Buch gibt die raffinierten Techniken preis – Bronze-Einsprengsel, Marmorierung, radierte Flächen und
Stupfen mit der Fingerkuppe –, mit denen Campendonk die magische Transparenz erzielte und seine Motive unverwechselbar machte. Dieses allererste Werksverzeichnis nur für Hinterglasbilder eines Blauen Reiters zeigt gepunktete, schraffierte und karikaturhaft umrissene Tiere, Pflanzen, Mädchen, Bauern und Pierrots – in diesem Stil war dieser Künstler den französischen Fauves oft näher als deutschen Kollegen. Einige werden später in der Schau „Tiefenlicht. Malerei hinter Glas von August Macke bis Gerhard Richter“ (23.9.2017 – 7.1.2018, www.museum-penzberg.de) vertreten sein.
