Der Wintergarten, in dem die Neurosen blühen

Für mich besteht der größte Luxus einer Schlossbesichtigung in der Vorstellung, sich für einen Moment an diesem Ort ganz zu Hause zu fühlen. Und der Frage, wie ich mir in den fürstlichen Gemächern und royalen Gartenanlagen die Zeit wohl am herrlichsten vertreiben könnte. Grandioses Kopfkino. Allerdings schränkt die Menge der Mitwirkenden diese Art von Genuss empfindlich ein: Bei 1, 4 Millionen jährlichen Neuschwanstein-Gästen etwa kann keine Stimmung aufkommen.

 

 

 

Romy Schneider als „Sisi“ und der Regisseur Visconti beim Dreh in Linderhof, 1972, Ausstellungskatalog (s.u.)

Lieber sehe ich mir zum ungefähr einhundertsten Mal Luchino Viscontis Filmjuwel Ludwig II. an, das 1972 an Originalschauplätzen wie Neuschwanstein, Linderhof, Herrenchiemsee und Nymphenburg gedreht wurde.

Glücklicherweise liegt Schloss Linderhof so abgeschieden im Graswangtal, dass dieses zwischen den steilen Hängen des Ammergebirges kauernde Lieblingsdomizil Ludwigs II. zumindest in den Wintermonaten mit absoluter Ruhe überrascht. Unter der Woche, versteht sich. Schlossführungen finden nach wie vor in kleinen Gruppen statt. Den weitläufigen Park hingegen hat man fast für sich alleine.

Mit ein wenig Fantasie lassen sich der englische Landschaftsgarten als auch die italianisierenden Terrassen- und Kaskadenanlagen wie ein zeitgenössisches Kunstareal durchwandern.

Alle Parkbauten – außer dem sogenannten Königshäuschen – liegen im Dornröschenschlaf, die Wasserspiele sind eingestellt. Steinerne Figuren und Zinkgussvasen werden mit maßgefertigten Einhausungen geschützt. Manche erinnern an die Freiluftskulpturen und amorphen Passstücke von Franz West, die mit ihren ungeschönten Nahtstellen und ruppigen Oberflächen als unförmige Auswüchse „Neurosen sichtbar machen“, wie der Künstler einmal sagte.

Hoch über der Terrassenanlage ragt ein griechischer Rundtempel auf, im Zentrum eine marmorne Venusfigur mit zwei Amoretten. Den Monopteros umgibt ein Reifrock aus Plastikplanen, als hätten Christo und Jeanne-Claude diese Abdeckung ersonnen. Und auf der Nordseite des Schlosses lässt eine verhüllte Neptungruppe, die den unteren Abschluss der Kaskade bildet, an die Wrapped Objects des Künstlerpaares denken.

Auch Hundinghütte und Einsiedelei des Gurnemanz liegen hermetisch verschlossen am östlichen Parkrand. In diesen stillen Winkel verirrt sich heute kaum jemand. Ludwig II. nutzte die von den Bühnenbildern aus den Wagner-Opern Parsifal beziehungsweise Walküre inspirierten Klausen als Rückzugsorte zur Lektüre oder um zwischen Bärenhäuten an seiner Privatmythologie weiterzuspinnen. Derart abgeriegelt wird die Architektur zur Skulptur und die Fiktion wandelt sich zur Realität. Vor allem die Einsiedelei wirkt mit ihrem windschiefen, von Baumstämmen gestützten Schindeldach wie ein Vorgängermodell zu Mark Dions Witches‘ Cottage, erst 2022 im Morsbroicher Skulpturenpark entstanden. Die Kunst, in allem Kunst zu sehen, hier lässt sie sich vorzüglich trainieren.

Was natürlich auch daran liegt, dass Ludwig II. für sein mythisches Erleben Berge versetzte. „Oh, es ist nothwendig, sich solche Paradiese zu schaffen, solche poetischen Zufluchtsorte, wo man auf einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann“, schrieb er 1869 an seine Nanny, die Baronin Leonrod.

Natürlich beginnt und endet die Historie Linderhofs nicht mit den exzentrischen Zier- und Nutzbauten des empfindsamen Wittelsbachers. Im Königshäuschen, der Urzelle des heutigen Schlosses, rollt die aktuelle Ausstellung „Vom Lydner-Hof zum Schloss“ die gesamte Geschichte auf: angefangen beim Namensstifter Hans Linder, der hier ab 1479 einen Hof bewirtschaftete, über Königin Marie von Bayern – Ludwigs Mutter –, die in einer feschen Tracht aus schwarzem Loden auf die Berge stieg und als eine der ersten bayerischen Alpinistinnen gelten darf, bis hin zu den touristischen Anfängen im August 1886. Übrigens nur wenige Wochen, nachdem der Kini am 13. Juni im Starnberger See tot aufgefunden worden war.

Leider ist die kleine Schau derzeit bloß an Sonn- und Feiertagen sowie in den bayerischen Schulferien geöffnet. Dann braucht es viel Vorstellungskraft, um sich inmitten des Getümmels den Märchenkönig herbei zu imaginieren: Wie er auf seinem geliebten Apfelschimmel Cosa Rara reitet, immer tiefer in den englischen Landschaftsgarten hinein, der so malerisch in den steilen Bergwald übergeht.

Text und Fotos © Alexandra González

 

www.schlosslinderhof.de/

Ausstellung „Vom Lynder-Hof zum Schloss“: jeden Sonntag sowie an Feiertagen und in den bayerischen Schulferien von 12 bis 16.30 Uhr geöffnet. Die Sommersaison mit den täglichen und längeren Öffnungszeiten beginnt am 23. März 2024.

Vanessa Voit, „Vom Lynder-Hof zum Schloss“, Bayerische Verw. d. staatl. Schlösser, Gärten u. Seen (Verlag)  978-3-941637-16-0 (ISBN), 12 €.

Zu Canova und Scarpa nach Possagno

Auf Streifzügen durch die Prosecco-Hügel lohnt sich immer auch ein Abstecher nach Possagno. Dieser am Fuße des Monte Grappa im nördlichen Veneto gelegene Ort gehört ganz und gar Antonio Canova, der 1757 hier geboren wurde. Und seit 1957 auch ein bisschen Carlo Scarpa.

Schon aus der Ferne leuchtet kalkweiß der Tempio Canovano, eine Pfarrkirche von römischer Grandezza, denn der Meister konnte nicht nur klassizistische Skulptur. In der Pasticceria wird das Schaumgepäck Meringa di Canova verkauft. Und im beschaulichen Ortskern verbergen sich hinter einer schlichten Fassade das Geburtshaus des Künstlers und das Museo Gypsotheca Antonio Canova voller Gipsabgüsse.

Wie Kraftprotze aus einem Superhelden-Comic bevölkern heroische Kolosse die als Basilika konzipierte Ausstellungshalle von 1836: Herkules packt Lichas an Schopf und Fuß, spannt ihn kopfüber als wäre er sein Bogen.

Theseus geht einem Zentauren an die Gurgel. Und Napoleon tritt überlebensgroß, nur mit einem Feigenblatt bedeckt, als Friedensstifter auf (nun ja, an der Selbstgerechtigkeit des Franzosen haben sich schon viele Männer abgearbeitet, zuletzt Ridley Scott und sein düsterer Superstar Joaquin Phoenix). Urspünglich war die idealisierte Aktstatue für einen Ehrenplatz auf der Place Vendôme gedacht, doch der Wirbel, den die Marmorskulptur bei ihrer Ankunft in Paris erzeugte, brachte den Kaiser in Verlegenheit, daher verbot er ihre Präsentation in der Öffentlichkeit. Am Ende besiegelte die Schlacht bei Waterloo nicht nur Napoleons Untergang, sondern auch das Schicksal zahlreicher die Bonaparte-Familie abbildender Kunstwerke – und so endete der „Friedensstifter“ als Kriegstrophäe in der Residenz des britischen Generals Wellington.

In den Gipsabgüssen stecken noch die Rèpere, Bronzenägel, die Canova als Bezugspunkte angebracht hatte, um Maße und Proportionen auf den Marmorblock zu übertragen. Mit einem Finish aus Wachs und Pigmenten wollte er den kalten Stein schließlich zum Leben erwecken. Aber seine monumentalen Kerle wirken dennoch in Kraft erstarrt.

Ganz anders die weiblichen Figuren, für die Canova eine weit poetischere Sprache fand. Die Drei Grazien liebkosen sich in einer einzigen fließenden Bewegung. Und wenn Psyche mit spitzen Fingern auf Amors Handfläche einen Schmetterling setzt, wird der Mythos mit einem Mal greifbar und lebendig.

Mitte der 1950er-Jahre betraut man den 1906 in Venedig geborenen Architekten Carlo Scarpa mit dem Erweiterungsbau der Gypsotheca. Er befreit die Skulpturen, zumindest einige von ihnen, aus ihrer Totenstarre, indem er mit Helligkeit, Heiterkeit und Leichtigkeit interveniert. Seine aus den Ecken des Annex in den Raum ragenden Quaderfenster, Splitlevel und Wasserbecken lassen das Museum behaglich erscheinen – und zugleich lush wie eine kalifornische Villa. Amor, Psyche und viele andere Schönheiten baden und tanzen jetzt im Licht.

Auch Canovas kleine, expressive Terracotta-Modelle, die unerwartet modern anmuten, erhalten in neuen Holzvitrinen endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Für diese Sensibilität hätte Antonio Canova seinen Landsmann geliebt. Für seine Ode an die tägliche Wanderung der Sonne auch. Für die Fähigkeit, im Spiel von Licht und Schatten eine ganz eigene Kunst zu erzeugen sowieso.

Heute vor 45 Jahren ist Carlo Scarpa, Schöpfer von Räumen im Licht, im japanischen Sendai gestorben.

Text und Fotos ©Alexandra González

www.museocanova.it/en/

Krieg und Frieden

Auf dem Kolovrat-Kamm herrscht Stille. Nur das Gurren eines Birkhuhns wird vom Wind herübergetragen. Unter den blaugrauen Wolkenmassen breitet sich eine Landschaft aus, die sich auf der einen Seite über das slowenische Soča-Tal bis zum Triglav-Massiv und auf der anderen Flanke bis zur Adriamündung dieses Flusses zwischen Grado und Monfalcone erstreckt. Isonzo heißt die Soča auf italienischem Boden.

Isonzo steht auch als Synonym für zwölf Schlachten, in denen sich Italien und Österreich-Ungarn zwischen Mai 1915 und Oktober 1917 einen wahnsinnigen Stellungskrieg lieferten. Nun ist es friedlich am Kolovrat. So weltentrückt, dass sich die Seele weiten will. Wären da nicht die italienischen Gefechtsanlagen aus dem Ersten Weltkrieg, die sich Maulwurfgängen gleich in das Erdreich gefressen haben.

 

 

 

 

 

 

Die Isonzofront zog sich mitten durch diese Hochgebirgsregion und verwandelte sie in eine aufgerissene Landschaft. Ein Anrennen gegen die Gipfel und Pässe war das, gewalttätig wogte die Front im Soča-Gebiet hin- und her. Auf beiden Seiten wurde für minimale Geländegewinne ein maßloser Blutzoll entrichtet.

 

 

 

 

 

 

Seit einigen Jahren will ein 500 Kilometer langer „Walk of Peace“, der auch am Kolovrat verläuft, an den massenhaften Kriegstod dieser Männer erinnern. Von den Julischen Alpen über das Collio und den Karst bis zur Adriaküste lässt sich auf diesem Wanderweg entlang von Memorials, Kavernen, Festungen und Friedhöfen über die Geschichte des Kriegs und den Preis des Friedens nachdenken. Über all das Leid, die Opfer, die Unterdrückung, die unzähligen Toten. Eine fortdauernde Warnung eigentlich.

Unten im Tal erzählt das Museum von Kobarid die Geschichten weiter – von den fremden Mächten, die mit Flammenfäusten nach diesem mit Schönheit gesegneten Land griffen. Es mahnt zum Frieden und rückt die Sicht der Leidenden, die bezahlen mussten, in den Mittelpunkt. Krieg ist überall grausam. Wie lässt er sich angemessen beschreiben? In diesem Weltkriegs-Museum, untergebracht in einem wundervoll erhaltenen Barockbau, sprechen vor allem Objekte, Bilder und persönliche Zeilen der entsetzlichen Erinnerung. Grabsteine in der Eingangshalle, die Tür eines italienischen Militärgefängnisses, Tagebucheinträge, Fotografien der von Giftgas entstellten Gesichter.

 

 

 

 

 

 

Auch der damals noch völlig unbekannte Ernest Hemingway erlebte als Sanitätsfreiwilliger auf der Seite der Italiener die Isonzoschlachten. In Fossalta di Piave wurde er schwer verletzt, nicht einmal 19 Jahre war er alt.

Zehn Jahre benötigte der amerikanische Schriftsteller, um seine traumatischen Erfahrungen im Roman „A Farewell to Arms“ zu einer düsteren Liebes- und Antikriegsgeschichte zu verweben. Dieses Buch, Schlüsselwerk der Lost Generation, sollte eines seiner erfolgreichsten werden. Es ist eine schmerzhaft aktuelle Lektüre über das Scheitern des individuellen Glücks in einer Welt der Kälte und des Sterbens. Hemingway kam in dieser Sphäre der Glaube an das Gute abhanden.

Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie. Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen und die sehr Mutigen. Ohne Unterschied.

E. Hemingway, In einem anderen Land

2018 wurde der Roman neu ins Deutsche übertragen, den etwas abwegigen Titel „In einem anderen Land“ behielt man bei. Auf dem Bücherständer im Shop des Kobarid-Museums wird auch diese Rowohlt-Ausgabe angeboten. Man sollte nicht achtlos daran vorbeigehen. Hemingways Text erscheint moderner denn je und derart eindringlich wie es nur große Literatur sein kann.

Text und Fotos © Alexandra González

 

https://www.thewalkofpeace.com/

Seit Kurzem ist die Gemeinde Kobarid auch mit der Augmented Reality App „Walf of peace – Kobarid während des Ersten Weltkriegs“ zu erkunden.

https://www.kobariski-muzej.si/deu/      

 

Für immer verbunden

Die Geburt einer Glocke steht am Ende eines nervenzehrenden und schweißtreibenden Prozesses. Erst, wenn sie nach dem Guss abgekühlt aus der Erde gegraben wird und der erste Anschlag erfolgt, wissen die Handwerker, ob sie volltönend und in der richtigen Frequenz erklingt. Zahlreiche dieser Wunschkinder hat die Erdinger Glockengießerei zwischen 1850 und 1971 zur Welt gebracht. Für ihren Wohlklang gefeiert wurden die tonnenschweren Bronzeriesen des Traditionsbetriebs überall. Das tontiefste Exemplar Bayerns (nach der Christus-Salvator-Glocke in Kloster Scheyern) ist die Jubiläumsglocke im Turm von St. Peter in München, von dem man bei klarem Wetter die Berge sieht. Sie stammt ebenso aus Erding wie das Geläut in der Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat bei Barcelona oder die Marienglocke der voralpinen Klosterkirche Andechs.

Seit vergangenem Herbst zieht ein stilisierter Glockenturm auf der Erdinger Fehlbachbrücke die Blicke auf sich und ruft Erinnerungen an dieses faszinierende Metier wach. Der Münchner Künstler Christian Hinz ist dafür tief in die Historie der Erdinger Gießerei eingetaucht.

Seine Skulptur besteht aus zwei Edelstahlplatten, die im Kreuz zueinander auf der Brücke verankert und miteinander verschweißt wurden. Gemeinsam formen die beiden Platten im oberen Bereich die Silhouette einer Glocke. In der Nacht illuminiert, verschwimmt die Skulptur beim Vorbeifahren zu einer leuchtenden Bewegung und bringt viel Magie in das ländliche Erding.

Und es gibt noch einen Grund, warum uns dieses Kunstwerk trotz seines kühlen Materials so herzerwärmt. In den Rundstäben hat Christian Hinz 1500 Schlösser eingehängt und auf 500 davon die Namen von Glockengießern, Glocken, deren Größe, Schlagton und Standort geprägt. Allesamt aus der Erdinger Gießerei, versteht sich. Wer mag, kann sich bei den verbleibenden Vorhängeschlössern als Poetin oder Poet betätigen und einen Spruch von Künstlerhand eingravieren lassen. Viele Liebesbekundungen sind bereits darunter. Reichlich Neugierde hat bei Christian Hinz eine Zahlenreihe erzeugt, die ein Erdinger Bürger in Auftrag gegeben hat: „Niemand außer ihm weiß, was dieser Code bedeutet.“

Es empfiehlt sich – wie bei einem Tattoo – reiflich zu bedenken, welche Message man über den Fluten des Fehlbachs zu hinterlassen wünscht, denn anders als die Legionen von Liebesschlössern an Brücken, werden diese hier nicht aufgeknackt und entsorgt, sondern sind für den Verbleib geschaffen.

Ich habe übrigens einen Vers aus Juan Ramón Jiménez „Giralda“ verewigen lassen. Das Gedicht über den Glockenturm der Kathedrale von Sevilla bedeutet mir viel, weil mein Vater in dessen Schatten aufwuchs. Immer noch wundere ich mich, wie Christian so viel Text auf dieser winzigen Fläche unterbringen konnte. Auch das gehört zu den Geheimnissen, die diese moderne Hommage an das Glockengießerhandwerk umflort.

Text: Alexandra González

Fotos © Christian Hinz und Alexandra González

https://christian-hinz.com/glockenturm/

Lawinen über Tolzbad

 Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm  #20

Zum Tanzen und Lachen ziehen die Bewohner des fiktiven Alpendorfs Tolzbad die dicken Schaffellvorhänge in ihren verschneiten Häusern zu. Derart groß ist die Furcht, dass bereits durch die geringste Erschütterung eine Lawine in Fahrt gebracht werden könnte. „Wenn der Tod seine Hand ausstreckt, wird alles weiß“, heißt es zu Beginn dieser hochkomischen Heimatgroteske des kanadischen Avantgarderegisseurs Guy Maddin aus dem Jahr 1992. In zauberhaften Papiermaché- und Sperrholz- Kulissen erzählt er die Geschichte einer schönen Witwe mit drei Söhnen.

Der Älteste lebt aus mysteriösen Gründen auf dem Dachboden versteckt. Der Zweitgeborene begehrt die Mutter und wird sich nach ihrer gemeinsamen Liebesnacht vom Berggipfel stürzen. Der dritte Sohn – Jahrgangsbester auf dem örtlichen Butler-Gymnasium – besiegelt das Schicksal der Familie mit seinem empfindlichen Ehrgefühl.

„Lawinen über Tolzbad“ zeigt uns eine Welt, die auf der Couch des Doktor Freud zusammengefiebert zu sein scheint. Hinzu kommen etwas Kitsch und Witz, von Maddin mit einer märchenhaften Bildsprache und der Ästhetik von Zwei-Farben-Technicolor in höhere Sphären gehoben. Er erweist sich dabei als Verehrer expressionistischer Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und des alpinen Stummfilmklassikers „Der heilige Berg“ von Arnold Fanck. Bei Maddin sieht das dann so aus, als wäre in einer Schneekugel gedreht worden. So beengt, so entrückt, so entzückend.

Die Kanadierinnen und Kanadier wissen zum Glück auch heute noch, was sie an ihm haben, diesem Traumwandler durch die Irrgärten des Melodramatischen und feiern Guy Maddin derzeit in Vancouver mit einer Retrospektive.

Text: Alexandra González

DVD „Careful“ (englischer Originaltitel) erhältlich über zeitgeistfilms.com/film/careful

„Celluloid Dreamland: The Cinema of Guy Maddin“, Retrospektive des Kultfilmers vom 26. Januar bis 20. Februar 2023 in The Cinematheque Vancouver, Kanada. Opening Night am 26. Januar in Anwesenheit des Regisseurs.

thecinematheque.ca/series/celluloid-dreamland-the-cinema-of-guy-maddin

Buntpapier und Schwarze Kunst

Tierskulpturen vor Museen gehen immer. Das Guggenheim Bilbao würde wohl auch ohne Jeff Koons‘ „Puppy“ seine Sogwirkung entfalten, doch im kleinen Bassano del Grappa kann ein Eyecatcher gar nicht hell genug scheinen, um auf verborgene Schätze aufmerksam zu machen. So glänzt das stahlgepanzerte „King Kong Rhino“ des chinesischen Künstlers Li-Jen Shih verführerisch vor dem Museo Remondini in der Sonne. Seine Präsenz mahnt aber auch den Schutz der bedrohten Art an und ist zugleich eine tiefe Verneigung vor Albrecht Dürers „Rhinocerus“. Denn diese Ikone des Renaissance-Genies ist nur eines von vielen Highlights der Remondini-Sammlung, die 8500 Druckgrafiken europäischer Meister wie Lucas van Leyden und Hendrick Goltzius, Paolo Veronese oder Jacopo Tintoretto umfasst. Mit 214 Werken von Dürer, etwa dem vollständigen Holzschnittzyklus zur „Apokalyse“, zählt die Kollektion auf diesem Gebiet zu den größten und qualitätvollsten der Welt.

Im eleganten Palazzo Sturm am Ufer des Brenta lässt sich ein Eindruck gewinnen von der Grandezza dieser Sammlung, die ihre Preziosen aus konservatorischen Gründen nur turnusmäßig dem Licht aussetzt. Doch die Präsentation macht’s! Gerade sind einige Kupferstiche nach Porträts von Anthonis van Dyck hinter den Türen der hölzernen Grafikschränke arrangiert. Öffnen ausdrücklich erwünscht.

Wer waren eigentlich diese Remondini, die den voralpinen Ort 50 km nordwestlich von Venedig mit ihren Druckwerken Mitte des 17. Jahrhunderts auf die Weltkarte des Handels setzten? Vor allem: kluge Geschäftsleute, innovative Unternehmer und gewiefte Sammler. Mit Schul- und Gebetsbüchern sowie Ritterromanen und höfischen Dichtungen, die als lose Blätter verkauft wurden, begründete Giovanni Antonio Remondini den Ruhm dieses frühen Medien-Imperiums.

Insbesondere macht er sich Schwärme von fliegenden Händlern aus dem Tessin, der Region um den Gardasee und der Slavia Veneta zunutze, welche die Buchbinderartikel und Druckerzeugnisse zunächst in Deutschland und Italien vertrieben. Ab dem frühen 18. Jahrhundert brachten sie sie über Spanien und Portugal nach Übersee und ostwärts bis Sibirien.

Ab 1730 wurde das Sortiment um Buntpapiere für Spiele und die Dekoration von Wänden wie Möbeln erweitert. In der dritten Generation, unter der Ägide von Giambattista Remondini, avancierte der Familienbetrieb zum größten Verleger und Drucker in Italien. Mit den Napoleonischen Kriegen und dem Niedergang der Republik Venetien versiegte die Fortüne dieses europäischen Leuchtturmunternehmens, das sich 1861 schließlich auflöste.

Im Palazzo Sturm wird die bewegte Firmengeschichte mittels plakativer Exponate aufgerollt. Da gibt es Vier-Zylinder-Maschinen, die den manuellen Druck ablösten und 5000 Bögen pro Stunde ausspuckten. Beidseitig mit kuriosen Bildern bedruckte Fächer, sogenannte Ventarole, ohne die damals Konversationen schnell erlahmten. Charmesprühende, seriell auf Papierbögen gebrachte Chinesi-Motive, die zur Verzierung von Objekten und Möbeln verwendet wurden, um teure Lack-Chinoiserien zu imitieren. Als Vue d‘optique bezeichnete Grafiken in perspektivischer Darstellung, die für den Guckkasten und den Zeitvertreib lange vor der Erfindung des Kinos bestimmt waren. Und natürlich Papiertapeten, Goldbrokatpapiere, Bronzefirnispapiere, zu deren Herstellung die Remondini die besten Handwerker aus Deutschland anheuerten.

Diese bunte Vielfalt lässt die Besucherinnen und Besucher schnell vergessen, dass die kostbarsten Blätter der Schwarzen Kunst leider die meiste Zeit gut geschützt im Depot schlummern müssen. Dem stählernen Panzernashorn auf dem Belvedere des Palazzo Sturm hingegen kann Tageslicht nichts anhaben.

Text und Fotos © Alexandra González

https://www.museibassano.it/en/page/palazzo-sturm

Slow Motion in Bad Reichenhall

Cooler Kuren? Gar nicht so leicht. Viele traditionelle Heilbäder im Alpenraum ringen um einen Ausgleich zwischen Nostalgie und überlebenswichtigem Bezug zur Gegenwart. Wer im Königlichen Kurpark von Bad Reichenhall am Alpensole-Springbrunnen sitzt und beim Anblick der Wasserspiele einen Rhythmus zum Meditieren sucht, spürt auch, wie fragil dieser Frieden sein kann.

Bad Reichenhall liebt, ja beschützt seinen Slow-Tourismus und setzt neben dem geradezu hypnotischen Regenerationseffekt der Parkanlage auf Kultur, Architektur, Technik. Außer dem Industriedenkmal „Alte Saline“ hat dieser bayerische Ort im Grenzland von Extravaganz und Kassenleistung, Belle-Époque-Melancholie und moderner Aufbruchstimmung mindestens noch zwei weitere Asse im Ärmel.

Da wäre zum einen das ReichenhallMuseum im historischen Salinenkasten, wo die für die Salzgewinnung schuftenden Holzknechte mit der kostbaren Naturalie Getreide bezahlt wurden. Heute speichert das Museum die Kulturgeschichte der Stadt. Vor drei Jahren wurde es nach aufwändiger Sanierung und Neukonzeption wiedereröffnet. Für ein Ferienwochenende ist es hier viel zu leer. Dabei hält das schöne, schlichte Haus mit den weiß ausgemalten und geschlämmten Wänden und Decken (sie entsprechen dem Originalzustand um 1500) besondere Geschichten parat. So kann man in einem ausgepolsterten Audio-Kabinett unter einem flirrenden Sternenhimmel Ohr und Herz den lokalen Sagen öffnen, etwa der vom Gold des Untersbergs oder von den Wildfrauen auf der Gmain.

Reichenhall war gewissermaßen das Dubai des Mittelalters. Ohne Salz keine Vorrathaltung, also glich die Bedeutung dieser Ressource der des Erdöls heute. Vom 7. bis Ende des 12. Jahrhunderts entwickelte sich die örtliche Saline zur leistungsfähigsten des östlichen Alpenraums und brachte der Stadt Wohlstand. Obschon einen alles andere als fairen. Das bezeugen Exponate wie Margot Benacerrrafs  Dokumentarfilm „Araya“ von 1959, in dem die französische Regisseurin die unmenschlichen Arbeitsbedingungen an einer Meersaline in Venezuela festhält. Stellvertretend für das harte und entbehrungsreiche Leben der Salineros aller Länder und Zeiten.

„Wir gebieten, dass ihr euren durch großen Reichtum aufgeblasenen Übermut bändigt“, maßregelte Kaiser Heinrich VI. bereits 1194 die Reichenhaller Bürger. Doch sein Befehl verpuffte in der Champagnerluft und die Bourgeoisie pflegte weiterhin ihren übergeschnappten Snobismus: Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ließen sich betuchte Kurgäste von sogenannten Sesselträgern sogar in die hochalpinen Zonen befördern – körperliche Betätigung galt als unfein.

Seit 1928 übernimmt die Predigtstuhlbahn gesellschaftsübergreifend den Job, kräfteschonend auf den Reichenhaller Hausberg zu kommen. Diese älteste im Original erhaltene Großkabinenseilbahn ihrer Art ist eine weitere Trumpfkarte der Stadt an der Saalach. Nahezu lautlos schwebt der feuerrote, zwölfeckige „Salonpavillon“ einem Panoramagebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit auf 1583 Metern Höhe entgegen. Aus lediglich drei Beton-Stützen besteht die steil geführte Seilstrecke. Maximale Seil-Spannweite: 1.000 Meter. Zum Fürchten, wenn man bedenkt, dass sich bis vor wenigen Jahren an den Monumentalstützen massive Schäden abzeichneten. Nach allen Regeln der Kunst (Materialtransport nur über Helikopter!) wurde auch dieses atemraubende Ingenieur-Bauwerk saniert, was ihm 2020 den Bayerischen Denkmalpflegepreis einbrachte.

Auf der Sonnenterrasse des Bauhaus-Restaurants, mit Weitblick über das bayerische Meer, den Wilden Kaiser und die Loferer Steinberge, hat man einige Zugeständnisse an hippe Retroversessenheit gemacht. Liegt es an den weichen Loungemöbeln aus den Fifties oder doch an dem Highball, dass die Zeit auch hier oben so wunderbar träge dahinfließt?

Text und Fotos © Alexandra González

Im Auftrag des Drachen

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Die heimlichen Alpenfilme:  #17

Da Clint Eastwood mit seiner sage und schreibe vierzigsten Regiearbeit, dem gemütlich erzählten Charakterstück Cry Macho, gerade die Kinobesucher bezirzt hat, ist dies der richtige Moment, an einen Rohdiamanten aus dem Jahr 1975 zu erinnern. Für sein Werk Im Auftrag des Drachen konzentriert sich Eastwood auf Action in ihrer reinsten Form: kein Double, keine Special Effects, keine Pappmaché-Felsen. Zugegeben, das Bergfilmklischee wird hier schon etwas bedient. Aber gekonnt. Und wenn es darum geht, Hollywoods einst attraktivsten Haudegen wiederzusehen (Eastwood  ist auch der „schlagfertige“ Antiheld unseres Heimlichen Alpenfilms #13), drücken wir ein Auge zu.

Doch was trieb dieses cinemagische Urgestein, das heute im Alter von 91 Jahren als Darsteller eine erschütternde Zerbrechlichkeit zulässt, seinerzeit ins Schweizer Hochgebirge?

Eastwood gibt den Frauen- und Kunstsammler Dr. Hemlock, der ein letztes Mal für eine Geheimorganisation einen mörderischen Auftrag ausführt. Sein Boss, ein lichtscheuer, mit Bluttransfusionen überlebender Albino, schickt ihn dafür in die Eiger-Nordwand.

Der Filmstar war in körperlicher Bestform, als er – dressed to kill im azurblauen Anorak – gegen den Schicksalsberg antrat. Als würde die steile Abbruchkante einen Schauspieler nicht genug fordern, musste es für den Amerikaner auch noch der Regiestuhl sein.

Gefährliche Seilschaft: Clint Eastwood mit seinem love interest Vonetta McGee

Weder Schneestürme noch der Tod eines Klettertrainers haben die Dreharbeiten gestoppt, damit Dr. Hemlock am Eiger eine letzte Rechnung begleichen kann. Dank Eastwoods Sportsgeist und kongenial im Hubschrauber agierender Kameraleute entstanden so höchst authentische Kletterszenen. Schon fürs Zusehen sollte man besser schwindelfrei sein.

https://www.alpine-kultur.com/agenten-sterben-einsam/

Alexandra González

Im Auftrag des Drachen (USA 1975) – immer wieder zu sehen in der 3sat-Mediathek.

Friede den Hütten

Overtourism ist im Berchtesgadener Land wahrlich kein Fremdwort, nicht einmal in der Pandemie. Und so strömen die Besucher, darunter zahlreiche indische und japanische Touristen, an diesem sonnigen Herbstwochenende wieder nach Berchtesgaden, an den Königssee und auf den Obersalzberg. We do Europe in two weeks. Für viele, sehr viele gehört offenbar auch historischer Grusel in Hitlers protzigem „Adlerhorst“, dem Kehlsteinhaus, dazu. Sogar eine Corona-Teststation ist dort oben in Betrieb.

Unmittelbar an den Nationalpark Berchtesgaden grenzt das Saalachtal im österreichischen Pinzgau und in seinem nördlichsten Winkel liegt die Gemeinde Unken nahe dem Grenzübergang Steinpass.

In der einzigen Bäckerei des Orts hat man seit Monaten kaum mehr Touristen gesehen. Inder? Japaner? Schon gar nicht. Jetzt fragen wir uns, weshalb man eine Nazigeisterstunde am Obersalzberg verschwenden muss, wenn man doch die Kultur dieser Landschaft im Unkner Regionalmuseum Kalchofengut viel besser erfasst? Also, auf geht’s ins Saalachtal statt auf den unheilvollen Hitler-Hügel!

Heute gibt es Wassermusik, sagt der Kustos Sepp Auer am Sonntagnachmittag und schmunzelt. Aber nicht von Händel. Am Haus wurde der Wasserlauf aus dem Brunnen über eine Rinne unterhalb der Dachtraufe umgeleitet und plätschert schließlich malerisch in einen Trog hinab.

Vor dieser Klangkulisse tönen die italienischen Partisanenlieder, die Jazzmusikerin Nane Frühstückl und Helmar Hill am Akkordeon gerade vortragen, noch spritziger. Ihr Auftritt dient quasi als Schlussakkord der „Bach“-Konzerte im Saalachtal –  ein Festival der besonderen Art, denn die Spielorte liegen „am Bach, am See, am Brunnen, am Wasserfall, im Kneippbad und wo es sonst noch sprudelt und fließt“.

Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Kalchofengut 1498. Vor 10 Jahren hat Sepp Auer das Museum übernommen und behutsam umgebaut. Jetzt gibt es etwa einen modernen Medienraum. Die Substanz dieses typischen Beispiels eines Mitterpinzgauer Einhofs ließ er freilich unberührt, so glänzt die uralte Rußschicht in der Rauchkuchl herrlich fettig wie eh und je. In der Schönkammer stapeln sich Stickereien, Klöppelspitze, handgewebtes Leinen. Und in der Sakralkammer ist ein Kreuzwegzyklus mit einer raren 15. Station zu bewundern – die bildliche Darstellung der Kreuzauffindung durch die heilige Helena.

Ein besonders zauberhaftes Museumsexponat wurde vom Kustos, der auf ein langes Berufsleben als Schreiner zurückblickt, in dreimonatiger Tüftelarbeit manuell gefertigt: das Diorama eines stattlichen Unkner Bauernhofs samt Nebengebäuden in ihrer Almlandschaft.

Verständnis für bäuerliches Rebellentum gegen die Obrigkeit suggeriert die aktuelle Wechselausstellung „Wilderei – Not und Leidenschaft“. Hier trifft man auf: Mena. Diese äußerst wehrhafte Wildschützin aus den 1930er Jahren versteckte eine erlegte Gams gerne unter den Latschenzapfen in ihrem Buckelkorb und ihre Büchse unter dem Kittel.

Nicht auszudenken, wäre sie derart ausgerüstet in das sogenannte Führersperrgebiet am Obersalzberg vorgedrungen und hätte mit einem beherzten Einsatz ihrer Flinte dem Spuk ein Ende bereitet. Dann würden die Touristen aus nah und fern heute nicht (nur) zu Hitlers ehemaligem Feriendomizil strömen, sondern nach Unken.

Fotos und Text © Alexandra González

Nur noch bis 3. Oktober 2021 ist das Regionalmuseum Kalchofengut geöffnet, dann wieder im nächsten Sommer – oder nach Vereinbarung.

http://www.kalchofengut.at

https://www.obersalzberg.de/home

Kopf ab, Höschen an

Für einen kurzen Moment zeigt sich der Himmel über Salzburg an diesem Starkregenwochenende in schönstem Blau-Weiß. Glück gehabt, denn bei einer durchgängig grauen Wolkenschicht funktioniert das Spektakel mit dem Opaion, diesem ovalen Himmelsloch in James Turrells „Sky Space“ gleich weniger gut; dann versinkt der Kunstraum auf dem Mönchsberg nämlich ebenfalls in Grautönen. Wohingegen er jeweils zur Dämmerung minutenlang im farbigen Helldunkel der Turrell’schen Lightshow changiert. Licht ist alles.

Auf ganz andere Ideen bringt uns der Besuch des Museums der Moderne gleich nebenan. Einen frechen Tanz mit der Geschichte wagt der nigerianisch-britische Künstler Yinka Shonibare CBE dort aktuell: Kopflose Figuren (Vive la Révolution!) in überkandidelten Galanterieposen tragen pompöse Rokokokostüme, ironischerweise aus buntem Dutch Wax Batikstoff geschneidert.

Diese großflächig gemusterten Textilien gelten vielen als Sinnbilder afrikanischer Kultur. Doch sind sie alles andere als genuin afrikanisch, denn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden sie von dem niederländischen Stoffproduzenten Vlisco aus Europa exportiert und haben obendrein ihren Ursprung in Indonesien. So poppig bunt unterläuft Shonibare Gewissheiten um Herkunft und Identität und visualisiert dabei die Verwicklung der europäischen Eliten in Kriege und Kolonialismus. „End of Empire“ heißt seine Ausstellung da nur konsequent.

Ziemlich umgekrempelt kommt in diesem Jahr auch der „Jedermann“ auf die Bühne. Die Premiere findet witterungsbedingt nicht auf dem Domplatz, sondern im Großen Festspielhaus statt. Sehr genderfluid präsentiert die Buhlschaft (mit Verena Altenberger spielt erstmals eine Salzburgerin diesen Part) einen raspelkurzen Pixie-Cut statt der obligatorischen Wallemähne. Und Lars Eidinger, immer gut für knackige Widersprüche, macht als Titel-Antiheld Dessous in Rosarot und Stöckelschuhe salonfähig. Nun sind wirklich alle aus dem Häuschen, die Karten haben für das Stück, das seit 101 Jahren zu Salzburg gehört wie „die Kunst, die Hysterie und ein wenig Schmäh“ (so heißt Andreas Ammers sehenswerte Festspiel-Doku). Andere, die kein Ticket ergatterten, maulen lustvoll, dass selbst diese zeitgemäße Koketterie mit den Geschlechtern das verstaubte Mysterienspiel nicht retten könne.

Am Ende tritt die Salzach glücklicherweise doch nicht über die Ufer, während andernorts ganze Landstriche in den Fluten versinken. Darf und will man natürlich nicht vergessen, selbst als die legendär leckere Haustorte an unserem Fensterplatz im Café Bazar serviert wird. Mit Blick auf den reißenden Fluss. Was für ein unvergleichliches Lokal! Thomas Bernhard hatte es in seiner Heimatstadt, die er leidenschaftlich für ihre „Geistlosigkeit“ verachtete, Asyl geboten. Wann immer ihm danach war. Und der Autor Anton Kuhn sagte einmal über das Café: „Die Salzburger Festspiele sind der Umweg, das Bazar ist der Zweck.“

Fotos und Text © Alexandra González

Yinka Shonibare, „End of Empire“, Museum der Moderne Salzburg Mönchsberg, bis 12. September 2021

https://www.museumdermoderne.at/de/ausstellungen-veranstaltungen/detail/yinka-shonibare-cbe-end-of-empire-2/