Illustre Illusion

     In diesem Bild voller Bilder residieren links oben zwei Tänzerinnen, gemalt 1914 von Ernst Ludwig Kirchner. Rechts davon strahlt August Mackes Große Promenade aus dem selben Jahr. Gleich daneben, zu sehen nur im kleineren Bildausschnitt unten, scheint Pablo Picassos fast futuristische schwarze Frauenkopfskulptur von 1909 auf. Das eigentliche Gemälde hier aber ist von Karin Kneffel, es stammt aus dem Jahr 2022. Die beiden über hundert Jahre alten Vorbilder leuchten zwar in allen Farben, wohnen aber wie der Picassokopf nur als Kulissen neben den matt gepinselten Flechtsessel des Franz Marc Museums. Sie alle werden von einer dritten „Folie“ in den Hintergrund gedrängt: Von der virtuosen Illusion einer Glasfläche nämlich, auf der sich grandios und zentral die Spiegelungen der Bäume und der Scheibengucker draußen materialisieren. So vielschichtig ist Karin Kneffels Malerei, die zur Zeit – siehe links – ganz real unter den schlauchbootgroßen Hängeleuchten im von ihr auf mehreren Leinwänden dargestellten Franz Marc Museum in Kochel am See zu Gast weilt. Dort zu sehen: 30 meist großformatige Ölgemälde auf zwei Etagen, alle mit Bildern, Unter-Bildern und Über-Bildern. Sie werden durch die riesigen Panoramafenster überall von grandiosen Naturausblicken in die bayerische Voralpenlandschaft gerahmt.

      Vor 50 Jahren gab es schon den brillanten Amerikaner Chuck Close, und damals bewunderten die Leute auch bereits die Geniestreiche von Gerhard Richter. Wie aber können Künstler:innen heutzutage noch etwas Wichtiges zu Kunst und Technik des Fotorealismus beitragen? Karin Kneffel gelingt das. Mit Tricks, Fabrikationen, Täuschungen, Spiegelungen. Es sind kleine Lügen und verdeckte Wahrheiten mit Ansage. Illusionistische Kabinettstückchen, die mit viel Arbeitsfleiß und extremer Genauigkeit von ihr zuerst nach Fotos perfekt realistisch gemalt und dann mehrfach verfremdet werden. Die ehemalige Meisterschülerin von Gerhard Richter ist längst selbst Professorin an der Münchner Kunstakademie. Ein großer Spaß, wenn sie Richters berühmte „Betty“ in eigenen Werken abbildet (wie in Kochel zu sehen), einige ihrer Studenten davor drapiert, im Vordergrund aber eine „Glasscheibe“ hinzu erfindet, deren angelaufene Stellen jemand mit der Hand saubergewischt hat, um von draußen in den Museumsraum schauen zu können. Mit solchen Kniffen hält Kneffel die Ausstellungsbesucher auf Distanz zu ihren Motiven und zu den Bildräumen, die sie malt. Man soll alles betrachten, aber nicht darin versinken, sagt sie: Ins Riesenhafte vergrößerte goldene Wassertropfen oder schnell per Wischfinger gezeichnete Smileys auf der imaginären Scheibe, von der Putzkolonne eingeschäumte Fenster. Im Filmbeitrag in der Ausstellung erklärt die
Malerin anschaulich ihre Arbeitsweise. Die an sich schon tolle Schau wird weiter veredelt durch etwa 15 kubistische und expressionistische Originale der Moderne. Es sind exakt diejenigen, die Kneffel en miniature in ihre Bilder integriert hat: Einige Chagalls, Kandinskys, Kokoschkas, Klees, Picassos, Kirchners et cetera hängen und stehen also in Kochel gerade eins zu eins daneben. Und das ist dann keine Illusion.

Text und Fotos:  Alexander Hosch  

Karin Kneffel. Im Bild – Franz Marc Museum, Kochel am See, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, www.franz-marc-museum.de, bis 3. Oktober 2022

(Vom Münchner Hauptbahnhof fährt stündlich die Werdenfelsbahn. Zur Zeit Schienenersatzverkehr ab Seeshaupt am Starnberger See.)

 

Grün-Blauer Reiter

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Heinrich Campendonk, der jüngste Maler des Blauen Reiter, lugt kaum aus dem Schatten von Marc, Macke, Münter, Klee und Kandinsky hervor – so berühmt sind die Anderen. Das könnte sich jetzt ändern: Am 4. Juni eröffnet das alte Penzberger Stadtmuseum. Mit Anbau und unter neuem Namen.

Man kann dort nun viele kleine Feinheiten entdecken. Wie das ins Treppenhaus integrierte farbige Campendonk-Glasfenster, die typischen schmalen ak_dsc_0193bExpressionistenrahmen aus Weichholz (einer soll sogar von „Brücke“-Kollege Ernst Ludwig Kirchner stammen) oder die realen Berge Benediktenwand und Herzogstand im Hintergrund. Sie geben der Kunst bei jedem Wetter eine charmante Alpenkulisse.

ak_dsc_0215bausschnitt25Mit einer dunkeltonigen, silbern aufblitzenden neuen Klinkerziegel-Architektur, welche die Kubatur eines bestehenden Bergarbeiterhauses verdoppelt, stellt sich die ehemalige Grubenstadt in den Voralpen nun endlich der alten Verbindung zum Blauen Reiter. Die höchst speziellen Penzberger Koloniehäuschen und ihre hügelige bäuerliche Umgebung sind als Staffage auf vielen Gemälden, Zeichnungen und Glasbildern Campendonks zu sehen, von dem die Stadt seit Kurzem mehr Arbeiten als jede andere besitzt – um die 300.

1911 luden die Münchner Avantgardisten den Krefelder Campendonk (1889-1957) zu sich nach Bayern ein. Bis 1922 lebte und arbeitete er in den Voralpen, erst im nahen Sindelsdorf, dann in Seeshaupt am Starnberger See. ak_dsc_0139b
Besonders Klee war ein enger Vertrauter. Campendonk stilisierte seinen Expressionismus bis ans Lebensende, sichtbar beeinflusst von den älteren Malerfreunden, als naiv-geheimnisvolle, oft in grün-blaues Dämmerdunkel getauchte Naturwelt. In den melancholischen, bisweilen auch irgendwie chagallesken Szenerien kommen zu jeder Epoche Mond und Sterne, Kühe, Ziegen, Marionettenfiguren oder liegende Akte vor. Zu sehen und zu schätzen ab sofort 50 Kilometer südlich von München.    Alexander Hosch

Ab 4. Juni: Museum Penzberg – Sammlung Campendonk, Karlstraße 25, 82377 Penzberg; www.museum-penzberg.deak_dsc_0145bk