Schaudern mit Shelley

Die Villa Diodati in einem Vorort von Genf war im Juni 1816 der Schauplatz eines legendären Dichtertreffens, das als „Gespenstersommer“ in die Literaturgeschichte einging. Sie gilt deshalb auch als Geburtsort des Schauerromans. In der Vorstellung ist dieser historische Moment bis heute eine Art frühes Orgien-Mysterien-Theater geblieben. Fünf junge englische Dandys und Dandyllas verbrachten dort damals gemeinsame Dichter- und Liebesstündchen. Begleitet wurden sie vom Geist der Aufklärung, von Schwarzer Romantik, von Reit- und Segelausflügen, surrealistischen Visionen, adliger Dekadenz, freier Sexualität, Okkultismus, einer neuen politischen Freiheitsschwärmerei und vielen kräftigen Opiaten. Kein Wunder, dass die Exzesse inzwischen über hundert Mal verfilmt worden sind.

Ein neuer Roman holt diesen coolen Club der toten Dichter jetzt in die Gegenwart. Und mit ihm die 200 Jahre alten Gedichte von Lord Byron, Percy Bysshe Shelley und John Keats (der allerdings nur später in Rom dabei war, nicht schon in Genf). Elegant verwebt der Berliner Autor Thomas Hasel einen Krimi von heute in die Gefühlskämpfe um Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe zur Zeit der Romantik. Selbst, wenn einem (wie dem Rezensenten) die zeittypischen Poeme all der jung gestorbenen Schriftsteller einen Tick zu pathetisch sind, taucht man sehr gern in ihre faszinierende Welt ein.

Neben der Villa in der Schweiz und den historischen Schauplätzen auf den britischen Inseln, in denen der Autor einzelne reale Geschehnisse der Jahre 1814 bis 1822 rund um die politisch verfemten Literaten Revue passieren lässt, tragen deren Exil-Domizile in Mittelitalien die Roman-Handlung: Venedig, Pisa, Viareggio, Rom. Im Krimi von heute, der rund um das an der Spanischen Treppe real existierende Keats-Shelley-Haus ausgebreitet wird, spielt ein angebliches gemeinsames Geheimgedicht von Shelley und Keats die Hauptrolle. Darum raufen sich zwei Oxford-Professoren. Eine aktuelle Love-Story hat der Autor auch noch zwischen die Reime geklemmt. Und die Geldnöte seines Helden, eines spielsüchtigen und leider gerade joblosen Frankfurter Finanzprofis, der in Rom mit seltsamen kleinen Gefälligkeiten sein Portemonnaie zu füllen versucht.

Die Alpen kommen zweifach ins Spiel – so gehört Percy Shelleys spätere Ehefrau, Mary Wollenstone-Godwin, zur Roman-Personnage. Sie veröffentlichte 1818 ihren Frankenstein, der ein neues Wesen erfand, das dann nachts auf einem Mont-Blanc-Gletscher erscheint. Wahrscheinlich hat die 18-jährige – mit Blick auf den Mont Blanc? – ihre weltberühmte Horrorstory in der Villa Diodati geschrieben. Dem Autor Hasel dienen Genf und der alpine See als Zwischenlandschaft und als betörendes Fantasiefeld – weil die wüste Villa, die der reiche prominente Libertin Lord Byron in jenem Sommer für seine Freund:innen anmietete, nun mal (und nicht erst seit Ken Russells Film Gothic von 1986) die besten Explosionsmomente für die Vorstellungskraft bereithält. Byrons 20-jähriger Leibarzt John Polidori verfasste dort ja prompt auch noch die kleine Erzählung „The Vampyre“, deren Protagonist später die Blaupause für Bram Stoker´s Dracula wurde. – Könnte es also nicht sein, dass im Juni 1816 auch in der Villa Diodati ein gemeinsames Gedicht entstanden ist? Von dem Schwerenöter Byron und Mary Shelley etwa? Vielleicht der nächste Stoff für Thomas Hasel, der uns die Romantik hier ganz neu und auf zauberhafte Weise zeitgenössisch versüßt.       

Text und Fotos:  Alexander Hosch

Thomas Hasel, Das Gedicht der Toten, 2021, Tredition, 16,80 €, auch als Taschenbuch und E-Book/E-Reader. ISBN 978-3-347-24483-2.

Mary et Percy Shelley, Frankenstein sur la Mer de Glace, Editions Guérin, Chamonix, 2007 (in französischer Sprache). ISBN 978-2-352-21016-0

(Die Villa Diodati am Genfer See gibt es noch. Sie ist privat, aber der Bus 9 nach Colomby braucht aus der Stadtmitte von Genf nur eine halbe Stunde. Man kann nicht ins Haus. Es gibt auf dem Weg dahin jedoch Infoschilder – und Tipps wie man sich angemessen diskret verhält.)