Von der Amour fou zum Musée imaginaire

Kostbare Objekte, Glasmalerei, Zeichnungen, Skulpturen, Hauptwerke von Giovanni Segantini, Rudolf Koller, Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler und Alberto Giacometti. Angesichts der Schätze, die derzeit im Landesmuseum Zürich und demnächst auch im Museo d’arte della Svizzera italiana in Lugano versammelt sind, können einem die Augen übergehen. Es ist schon ein besonderes Fest, da diese Meisterwerke normalerweise auf 70 eidgenössische Museen verstreut sind. Sie stammen aus der Sammlung der seit 1891 aktiven Gottfried-Keller-Stiftung, eine märchenhafte Kollektion Schweizer Kunst ohne eigene Räume, die ihre Bestände, darunter Segantinis „Alpentryptichon“, Böcklins „Toteninsel“ oder Kollers „Gotthardpost“, als Dauerleihgaben auf verschiedene Häuser verteilt hat. Unmöglich, die mehr als 6400 Archive und Konvolute alle zu Gesicht zu bekommen. Ein plakatives Denkmal wollte sich die Stiftungsgründerin Lydia Welti-Escher vor 130 Jahren offenbar nicht setzen. Doch wer war diese großherzige Frau? Und warum so selbstlos?

Nur etwas mehr Kampfgeist und aus ihr wäre eine Peggy Guggenheim der Belle Époque geworden: Eine Mäzenin, die auch schwierige Kunst unterstützt, die sich die Freiheit nimmt, einen unmöglichen Kerl zu lieben und am Ende sagt – ich bereue nichts. Doch die wohlhabende Zürcher Patriziertochter lebte in einer Gesellschaft, die Frauen keine Flügel verleiht. Ihre Amour fou zu dem Künstler Karl Stauffer-Bern gipfelte im größten Schweizer Society-Skandal des 19. Jahrhunderts.

Karl Stauffer, „Bildnis von Lydia Welti-Escher“, 1886, Kunsthaus Zürich. Cover des Ausstellungskatalogs

Als sie ohne Geld und ohne Gepäck mit Stauffer-Bern nach Rom durchbrannte, intervenierte die mächtige Familie ihres Ehemanns Friedrich Emil Welti: Die Eskapade endete für sie im Irrenhaus und für ihn im Kerker. Beide kamen nach Monaten frei, zerbrachen aber an der Kriminalisierung ihrer Liebesgeschichte – und nahmen sich das Leben.

Bevor Lydia Welti-Escher am 12. Dezember 1891 starb, regelte sie noch eine Herzensangelegenheit: Ihr kolossales Vermögen aus dem Erbe des Eisenbahnkönigs Alfred Escher schenkte sie der Schweiz – zur Gründung einer Kunststiftung, die den Ankauf bedeutender Werke ermöglichen und auch Frauen weiterbilden sollte. Wieder schalteten sich die Weltis ein und redeten ihr den emanzipatorischen Passus in der Gründungsurkunde aus. Nicht einmal ihren Namen durfte sie der Stiftung vermachen. Warum ließ sie sich erneut demütigen? Es bleibt ein Rätsel.

Barthélemy Menn, „Waadtländer Mädchen mit Schlüsselblumen“, 1860. Kunsthaus Zürich

Heute ist die Gottfried-Keller-Stiftung, benannt nach dem Dichter und Freund der Familie Escher, das größte Musée imaginaire der Schweiz. Seit Ende 2018 hat es zudem einen digitalen Zwilling, denn das Bundesamt für Kultur präsentiert immer mehr Werke aus der Sammlung auch online. In Zürich und Lugano bietet sich endlich die Gelegenheit, die Highlights vereint und leibhaftig zu erleben.

Alexandra González

 

 

„Glanzlichter der Gottfried-Keller-Stiftung“, bis 22.04.2019, Landesmuseum Zürich

https://www.nationalmuseum.ch/d/microsites/2019/Zuerich/Glanzlichter.php

„Hodler – Segantini – Giacometti. Capolavori della Fondazione Gottfried Keller“, 24.03.-28.07.2019, Masi Lugano

http://www.masilugano.ch/it/794/hodler-segantini-giacometti

Zu den Ausstellungen ist bei Scheidegger & Spiess der schöne Katalog „Meisterwerke der Gottfried-Keller-Stiftung“ erschienen. Er kostet 38 Euro.

https://www.scheidegger-spiess.ch

Sammlung online:

https://www.gottfried-keller-stiftung.ch/gks/de/home.html

Im Spiel der Wellen

Steine klopfen – manche entspannen sich am Wochenende, indem sie urzeitliche Fossilien aus jahrtausendealten Erdschichten ins Licht der Welt zurückbefördern. Eine ähnliche Schatzsuche ist jetzt in der Ausstellung „Radiophonic Spaces“ mit 210 ausgewählten Musikstücken, Hörspielen und Geräuschkulissen aus 100 Jahren Radiogeschichte inszeniert. Sie galten als verschollen oder waren im – für die Allgemeinheit unzugänglichen – Radioarchiv der Bauhausuniversität Weimar quasi im Expertenzirkel gefangen, ehe ein Team aus Forschern, Technikern und Künstlern jetzt daraus ein Vergnügen für alle bereitete.

    In Basel ist diese “Hör-Schau“ mit Soundparcours jetzt zur Premiere angerichtet – in direkter Nachbarschaft zu den auratisch hereinwirkenden kinetischen Skulpturen von Jean Tinguely (1925-1991), die ja oft selbst Töne oder Lärm erzeugen. Man läuft im Tinguely Museum gewissermaßen als seine eigene Sendersuchnadel durch die große Halle, die extra zum Sound-Lab umfunktioniert wurde. Die komplett dezente Ästhetik der Schau wird lediglich von antik anmutenden Sende- und Empfangsinstallationen, einigen Corbusiersesseln, Bildschirmplattformen sowie den Besuchern mit ihren vorprogrammierten Smartphones und Kopfhörern bestimmt, die durch die Wellenlandschaft driften. Musik und Frequenzrauschen, Klänge und Geräusche gehen über alles, keine Äußerlichkeit steht ihnen im Weg. Durch ihre Bewegungen und etwas Smartphonetechnik suchen und finden die Museumsgäste die auf je anderen Wellenlängen an vorbestimmten Plätzen verorteten Hörbeispiele aus der Geschichte der Radiokunst: Je nachdem, welche vorarrangierte Frequenz man mit dem Spezial-Smartphone passiert, kann man etwa Paul Hindemiths sonst unzugängliche, 1930 in der Berliner Rundfunkversuchsanstalt aufgenommene „Grammophonplatteneigene Stücke“ vernehmen. Oder experimentelle Avantgarde-Radiophonie mit frühen „Scratches“ des Bauhauslehrers Laszlo Moholy-Nagy, 1923 am Staatlichen Bauhaus Weimar aufgenommen und kürzlich von einem spanischen Professor rekonstruiert. „Imaginary Landscapes“ von John Cage sind im Angebot, Sprech-Dada mit Ernst Jandl und andere einmalige Beiträge – wie eine 1950 von einem Journalistenteam des Radiostudios Lausanne begleitete, akustisch dokumentierte Matterhornbesteigung durch Walliser Bergführer. So schön schlägt alpine Hoch-Kultur Wellen in Basel am Rhein.

    Das Thema wirkt nur auf den ersten Blich wie aus der Zeit gefallen. Denn durch die verspielte Anlage dieser faszinierenden Ausstellung bekommt das fordernde intellektuelle Setting viele schöne Fun-Aspekte: Die Besucher wirken wie Pokemon-Go-Spieler, wenn sie auf der Suche nach der Radiokunst verstrahlt durch die Schau gehen. Sie können manches für später speichern – und so quasi liken, was ihnen gefällt. Eine 14-teilige Aktionsplanung mit Wochenthemen wird bis Ende Januar die ganze Stadt in das Projekt intregrieren – Soundwalks sind dabei, Hörexpeditionen, eine Funkwoche für alle und sogar eigener Radiobau. Also von wegen, Radio ist tot, denn jetzt gibt es ja Podcast.                Text und Fotos: Alexander Hosch

Radiophonic Spaces, Museum Tinguely, Basel, 24. Oktober bis 27. Januar, www.tinguely.ch. Im Bauhausjahr 2019 wandert die Schau nach Berlin (Haus der Kulturen) und Weimar.

Wild at heart

Frankreich, Lavandou: Menschen; Erika Mann im Liegestuhl. 1933. Foto von Annemarie Schwarzenbach

Sie war befreundet mit Klaus und Erika Mann, mit Therese Giehse, Carson McCullers, der Rennfahrerin Maud Thyssen, doch ihre Modernität stellt alle in den Schatten. Diese Frau hatte vor nichts Angst – außer vor dem Stillstand.

Annemarie Schwarzenbach, androgyn, schön, reich, rumpelte im schicken Ford-Cabriolet über die Schotterpisten des Mittleren Ostens, streifte durch den von Armut geprägten Baumwollgürtel der USA und drang immer tiefer ein in Afrikas Herz der Finsternis, den Kongo. Nicht aus reiner Abenteuerlust, sondern mit einem sozialen und politischen Gewissen als Motor.

Irak, Ukhaidar. Karteikarte: Festung; Auto von Annemarie Schwarzenbach. 1933

In ihren Reisefeuilletons ist sie an den Menschen ebenso nahe dran wie an den Landschaften. Wenn es für die Schriftstellerin, Reporterin, Fotografin, Antifaschistin und Morphinistin überhaupt einen Ruhepol gab, so war er das Engadin, ihre Wahlheimat. Und wer sich heute in Sils mit einem Buch dieser rasend progressiven Gestalt blicken lässt, wird womöglich schnell Freundschaften schließen.

Sils ist Endstation. Das Glitzern der Vergnügungssüchtigen in St. Moritz weit weg. An den Rand des Hochplateaus kommt nur der, der wirklich her möchte. Hier endete am 15. November 1942 das irrlichternde Leben der am 23. Mai 1908 in Zürich geborenen Industriellentochter. Erst 1987 setzte der Wirbel um die nach ihrem Tod bald völlig in Vergessenheit geratene, in keinem Literaturlexikon erwähnte Autorin ein. Sie wurde wiederentdeckt als feministische Galionsfigur, die unter persischen Turkmenen campierte und im Kohlerevier bei Pittsburgh recherchierte, während die Frauen zu Hause nicht einmal an die Wahlurnen durften. Erst im vergangenen November hat das Schweizerische Literaturarchiv, das Schwarzenbachs Nachlass pflegt, mehr als 3000 ihrer Fotografien auf Wikimedia Commons online gestellt: überwiegend Reisebilder aus vier Kontinenten, viele private Schnappschüsse ihrer Bohème-Freunde.

Heute taugt Annemarie Schwarzenbach zur Kultfigur. Auch zum Urbild einer Pop-Heroine. War Andy Warhols Mondgöttin Nico, die Sängerin von Velvet Underground, nicht ihre Wiedergängerin? Düsteres Charisma, surrealistische Klagelieder, den Drogen bereitwillig geopferte Schönheit. Dieser schwarze Stern. Geboren vor 110 Jahren.

Text: Alexandra González

Fotos: Sammy Hart und Annemarie Schwarzenbach https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CH-NB-Annemarie_Schwarzenbach

 

Saas-Fee

Saas-Fee – das ist der Name einer Legende zwischen Walliser Gletschern und Zauberbergen. Der einmalig romantische Wintersport-Ort lockt hoch über der Vispa-Schlucht seit Jahrzehnten mit spitztürmigen Kirchen, malerischen kleinen Maiensässen im Dorfkern und einem unüberbietbaren Panorama samt 13 Viertausendern als winterweiße Krone.

Seit Kurzem punktet Saas-Fee aber auch mit neuen Schätzen. Der Wohntraum schlechthin ist seit 2014 – ausgerechnet eine Jugendherberge. Mit 50,5 gegen 49,5 Prozent nur denkbar knapp entschied sich die Saaser Bürgergemeinde überhaupt für ein eigenes Youth Hostel oben am Talschluss, vorher gab es keins. Doch dann durften die Planer durchstarten. Sie formten im Auftrag der Gemeinde und der Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus in Zürich, die alle Schweizer Jugendherbergen trägt, einen grauen Holzbau mit vielen superben Details. Durch eine Sondergenehmigung des Kantons durfte er als erste fünfgeschossige Schweizer Wohnarchitektur überhaupt aus Holz entstehen. Die galten bislang als brandgefährlich – und waren deshalb verboten. Durch Vorfertigung der äußeren und inneren Wandelemente konnten die winterbedingt knappen Bauzeiten auf 1800 Meter gehalten werden. Die Architektur stammt vom Büro Steinmann & Schmid, die Tapeten und anderes von den Basler Textildesignern Matrix. Spektakulär ist, wie das alte Hallenbad, ebenfalls von Steinmann & Schmid überarbeitet, zu der beeindruckenden anthrazitfarbenen Spalandschaft Aqua Allalin erweitert wurde. Heißer Stein, Sprüheisdusche, Gletscherbalkon. Zwei verglaste Saunen mit Panoramafenstern zu den Steinböcken am Felskliff gegenüber. So bekam Saas Fee die einzige Spa-Jugendherberge der Welt, das grandiose wellnessHostel 4000, das auch noch besonders nachhaltig ist (mit Kollektoren aufgeheiztes Wasser, Erdregister in einem Felsspeicher). Auf den Übernachtungspreis werden einfach ein paar Franken draufgeschlagen, dann dürfen die Hostelgäste so oft sie wollen ins Spa-Paradies. Natürlich nützen angesichts der aktuellen Schneemassen vor allem viele Skifahrer das smarte Angebot.

Die zweite schlaue Geste an den Zeitgeschmack ist, dass da oben kein einziges Auto mehr mit Verbrennungsmotor fährt. Ausschließlich e-Mobile steuern als Hotelshuttles, Taxis, Lieferwagen oder Paketdienst die Hotels und Chalets des berühmten Gletscherdorfes an. E-Busse bringen die Skitouristen zu den verschiedenen Startpunkten für das Pistenvergnügen in Saas-Balen, Saas-Grund, Saas-Almagell und Saas-Fee (es geht bis auf 3.600 Meter).                                           Text: Alexander Hosch

Anreise nach Saas-Fee   Zug über Zürich bis Visp (Swiss Travel Pass, ab 205 € für 3 Tage), weiter mit dem Postbus (umsonst mit STP oder Saaser Bürgerpass). Skipass 1 Tag p. P. Erwachsene 73 CHF,  Kinder bis 15 Jahre: 35 CHF, Jugendliche von 16-19: 61 CHF. Nacht im wellnessHostel 4000: Doppelzimmer ohne/mit Wellness – 123/149 CHF; Bett im 6er-Zimmer 41/54 CHF; www.saas-fee.ch/de/hotel/wellnesshostel4000/ oder https://www.youthhostel.ch/de/hos tels/wellnesshostel4000/

Einen aktuellen Beitrag über das WellnessHostel 4000 in Saas-Fee gibt es auch in meinem Buch „Architekturführer Schweiz. Die besten Bauwerke des 21. Jahrhunderts“, Callwey Verlag, 36 Euro, S. 169. https://www.callwey.de/buecher/architekturfuehrer-schweiz/

 

In das Bergell der Künstler

Ein anhaltendes Donnern, ein Seitental voller Staub … und auf einen Schlag hatte sich das Leben im Bergell verändert. Im August wälzten der Bergsturz am Piz Cengalo und mehrere darauf folgende Murengänge hundertausende Kubikmeter Schlamm und Geröll durch das Val Bondasca. Die Katastrophe traf eine Talschaft am Rande der Schweiz, die sich schon sehr lange im Schatten des Engadiner Glitzertourismus geduckt hält. Gewiss, die Schneise der Verwüstung in der roten Zone um das Dorf Bondo ist unübersehbar. Doch der Rest der Gegend gilt unbedingt als sicher.

Daher kämpft die Region mit der herzerwärmenden Initiative #Forzabregaglia um seine Reputation und gegen stornierte Reisebuchungen. Besucher und Bewohner sind jetzt aufgefordert, mit aktuellen Fotografien in den sozialen Netzwerken eine Ode auf die Vielfalt des Bergell anzustimmen. Eigentlich kein Problem bei dieser Darbietung: Zwischen dem Malojapass und Chiavenna, 17 Kilometer nördlich des Comer Sees, fällt die Landschaft von 1815 auf 333 Höhenmeter ab. Ein schroffer Wechsel der Kulturen,  von nordisch alpin zu üppig mediterran, von graubündnerisch zu italienisch, fast so als hätte jemand plötzlich das Schwarzweißfernsehen auf Farbe umgestellt. 

Gerade im Winter ist es hier wie nirgendwo sonst in der Schweiz: Keine Snowciety, Hotelburgen und Dom-Perignon-Süppchen, dafür stille Schönheit und ein einzigartiges     Zwielicht, das die Gefilde in dunkle Töne taucht. Vier Monate lang schafft es die Sonne nicht über die Gipfel der gewaltigen Berge, trotzdem herrscht ein mildes Klima im Tal. Wegen dieses besonderen und beständigen Lichts kehrte Alberto Giacometti, der in Paris mit seinen ausgemergelten Gestalten Weltruhm erlangt hatte, am liebsten während des Winters in seine Heimat zurück. Das Grau der alten Dörfer – mit ihren Granitschindeldächern wirken sie wie Versteinerungen – ist die Farbe von Giacomettis Kunst. Seine spindeldürren, schattenhaften Figuren verkörpern das Bergeller Gefühl. Zerbrechlich, doch hartnäckig. Ein Eingeklemmtsein zwischen steilen Dreitausendern und eng stehenden Häusern. So eng, dass man sie in den schmalen Gassen mit ausgestreckten Armen berühren kann.

Eine der bedeutendsten Künstlerfamilien der Moderne hat das Bergell hervorgebracht. Da sind Albertos Vater Giovanni Giacometti, der große Kolorist. Und Diego, ein begabter Bildhauer und Designer, mit dem der berühmte Bruder das Pariser Atelier teilte. Auch Augusto Giacometti, der Jugendstil und Symbolismus weiterdrehte und die Glasmalerei erneuerte, kam von hier.

Augusto Giacometti, „Am Morgen der Auferstehung“, 1915, Wandbild in der Kirche St. Pietro in Stampa

Zahlreiche Spuren hat diese Malerdynastie hinterlassen, doch erst kürzlich wurden sie nachhaltig freigelegt. Vorangetrieben hat diese Entwicklung die Fondazione Centro Giacometti. Die Stiftung bietet Vorträge, geführte Exkursionen und eine neue App, den „Giacometti Artwalk“. Drei Jahre Recherche und reichlich filmische Erzählkunst wurden in diesen audiovisuellen Guide investiert.  Der Kulturkompass lotst die Nutzer zu den Wohnstätten und Ateliers, zu Staffeleistandorten hunderter Kunstwerke. Das Beste dabei: auf diese Art weitet sich das Bergell zum Museé imaginaire aller Giacomettis.

In dem auf einer Sonnenterrasse in 1000 Meter Höhe gelegene Dorf Soglio finden sie sich schließlich doch: die wärmenden Strahlen. Für den Alpenmaler Giovanni Segantini, der am Ende des 19. Jahrhunderts hier oben überwinterte und auch dem Licht der Berge verfallen war, betrat man in Soglio nichts Geringeres als „die Schwelle zum Paradies“. Daran kann selbst ein höllischer Felssturz nichts ändern.

Fotos: © Sammy Hart

Text: Alexandra González

Von Hollywood nach Leukerbad

Rassistische Kundgebung in Little Rock. Aus dem oscar-nominierten Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“. Photo courtesy of Magnolia Pictures.

„Moonlight“ hat also bei der Oscar-Verleihung das Rennen gemacht. Dieser Film porträtiert schwarzes, schwules Leben in seiner Vielschichtigkeit, seinem Stolz und seinem Schmerz. Ein Sujet, das es im glamourversessenen Hollywood ganz und gar nicht leicht hat. Das macht diesen Sieg noch süßer. Auch in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ waren drei Produktionen nominiert, die sich mit dem Thema Schwarzsein in den USA befassen. Am Ende mussten sich die besseren – „I Am Not Your Negro“ und „13th“ – gegenüber „O.J.: Made In America“ geschlagen geben. Ihre furiose Kraft beziehen diese Filme gerade jetzt aus einer erschreckenden Nähe zur amerikanischen Gegenwart. Daher sprengen sie mühelos die Fesseln ihrer Identity-Politics-Nische.

Plakat zum Film. Photo courtesy of Magnolia Pictures.

„I Am Not Your Negro“ erzählt die Geschichte Amerikas mit den Worten des großartigen Autors und Bürgerrechtlers James Baldwin (1924 – 1987) neu. Die Basis für diesen Film ist sein 1979 begonnener, letzter, doch unvollendet gebliebener Text „Remember This House“. Um sein Lebensthema – die scharfsinnige Kritik an der rassistischen Gesellschaft – zu formulieren, musste Baldwin seine Heimat jedoch zunächst einmal verlassen.

Mit nur 25 Jahren zieht er nach Paris. Im Winter 1951 schlupft er dann mit seinem Schweizer Liebhaber Lucien Happersberger in Leukerbad unter. Ein schwuler, dunkelhäutiger Bohèmien in einem Walliser Nest – kann das gut gehen? Erst amüsiert sich Baldwin über den Hauch von Erstaunen, Neugier oder auch Entrüstung, der ihm stets folgt, dann legt er los. Er vollendet in Leukerbad nicht nur seinen ersten amerikanischen Roman „Go Tell It On The Mountain“ über die Geheimnisse einer unterdrückten schwarzen Familie in der Großen Depression. Später packt er seine Erlebnisse auch in einen weltklugen Essay über Rassismus: „Ein Fremder im Dorf“ ist vor wenigen Jahren, neu ins Deutsche übersetzt, in der edition sacré erschienen.

Er sei einfach ein lebendes Wunder, stellt Baldwin fest, als die Kinder ihn mit Schneebällen bewerfen und die Älteren ihm belustigt ins Haar fassen. „Im Scherz schlug man mir vor, ich solle es wachsen lassen und mir einen Wintermantel daraus machen.“ Aber Vorsicht, Baldwin ist für billige Agitation nicht zu haben, sondern eine smarter Analytiker des ungleichen Blicks, mit dem sich Schwarze und Weiße gegenüberstehen. „Im Grunde existiert der Schwarze als Mensch für Europa nicht. In Amerika jedoch war er selbst als Sklave ein unübersehbarer Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Gefüges, und kein Amerikaner konnte es umgehen, ihm gegenüber Stellung zu beziehen.“ Gedanken von verstörender Aktualität. Und die Academy of Motion Pictures Arts and Sciences (sie vergibt die Oscars) leistet sich in diesem Jahr mit ihrem vielfältigen Reigen aus Filmen von und über Afroamerikaner eine seltene Hommage an die Wirklichkeitsnähe.   Alexandra González

 

I Am Not Your Negro wird ab 30. März 2017 in den deutschen Kinos zu sehen sein.    

James Baldwin Fremder im Dorf — Ein schwarzer New Yorker in Leukerbad. Édition Sacré, 2012. Illustrationen: Blanc de Titane. 14.- SFR. / 11 €

 

Bauhaus meets Hüttenzauber

Lois Welzenbacher (1899-1955) war ein Tiroler Architekt. Sein Sudhaus für Adambräu sah auf Fotos schon zur Bauzeit 1926/27 berückend modern aus. Ein Prototyp für die sich gerade erst entwickelnde Architektur des Bauhauses? Man hätte diesen Industriebau damals leicht in Dessau oder Jena vermuten können.

Neunzig Jahre später, an einem sonnigen Innsbrucker Wintertag um die Mittagszeit. Die Brauerei gibt es nicht mehr. Aber das Adambräu gleich beim Hauptbahnhof sieht noch immer großartig aus. Es beherbergt jetzt das Archiv für Baukunst der Universität. Und zur Zeit dessen Ausstellung „Hoch hinaus!“. Darin geht es um die Wege in den Alpenraum seit 200 Jahren, und um kleine und große, alte und nagelneue Schutzhütten des Deutschen, Österreichischen und Südtiroler Alpenvereins. Die Schau bringt in den oberen drei Geschossen Fotos von Hütten und Menschen sowie Accessoires aus der Anfangs- und Jetztzeit der Alpenerschließung zusammen. Sie führt modellhaft die Energiebilanz so einer Schutzhütte vor Augen. Man kann per Knopfdruck genau den realen Strom- oder Wasserhaushalt beleuchten. Einmal Klospülen kostet 5 Euro. Alte S/W-Fotos verbreiten Nostalgie. Simulierte neue Bilder bereiten auf die Zukunft vor: Metallisch glitzernde Techno-Zacken – wie ab Sommer 2017 etwa die Seethalerhütte am Hohen Dachstein. Die ergeben aber genau dann Sinn, wenn sie schlau gebaut sind und den Extrembedingungen auf 3000 bis 4000 Metern besser Paroli bieten als die Holzbauten von früher.

Soziologie, Ökologie, Kultur, Architektur, Logistik, Gemütlichkeit – die Berghütten-Romantik ankert in vielen Gebieten. Alle kommen in der Schau vor, aber nicht auf akademische oder enzyklopädische Weise. Sondern kurz und kenntnisreich, sehr charmant. Grüne Holzpantoffeln mit Edelweiss drauf, ein Fenstertableau voller Stühle, Schaubilder mit Leuchtknöpfen. Und ganz oben darf man im allseitig durchfensterten Panoramastüberl die reale Kulisse der Stadt Innsbruck vor Nordkette und Wendelsteingebirge genießen. Oder ein paar Augenblicke unter einer Original-Hüttendecke zwischen rotweißen Polstern schlummern. Apart.   Alexander Hosch

Hoch hinaus“ im Adambräu, Archiv für Baukunst, Innsbruck, bis 3. Februar 2017, www.alpenverein.at/museum. Eintritt frei. Anschließend ist die Schau ab 9. März im Alpinen Museum München zu Gast, sowie später noch als dritte Station in Bozen.

Mehrere Alpenschutzhütten aus jüngster Zeit – etwa die Neue Monte-Rosa-Hütte – sind in meinem „Architekturführer Schweiz – die besten Bauten des 21. Jahrhunderts“ vorgestellt. Siehe https://www.callwey.de/buecher/architekturfuehrer-schweiz/

In die Bibliothek der Superlative

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Der Schweizer Heimatschutz (nicht zu verwechseln mit den amerikanischen Geheimniskrämern) kümmert sich als Verein um das baukulturelle Erbe der Eidgenossenschaft. Seit einigen Jahren sorgt die Initiative mit zauberhaften Publikationen im Postkartenformat dafür, dass man augenblicklich zur einer groß angelegten Tour de Suisse aufbrechen möchte. Mission erfüllt. Jeder Band ist einem anderen Superlativ gewidmet, denn die Schweiz kann nun mal aus dem Vollen schöpfen – die schönsten Kaffeehäuser, Bäder, Bauten, Hotels und zuletzt eben die schönsten Museen in zwei Bänden. Gerade wurde Band 2 herausgegeben, der sich auf 50 Ausstellungsorte für Bildende Kunst konzentriert.

Beim Blättern treffe ich aufluchtbergfoto_300f alte Bekannte wie das Musée Jenisch, ein neoklassizistisches Schatzkästchen am Genfersee für Arbeiten auf Papier. Oder den von Reformgeist und Champagnerlaune einer Aussteigerkommune umwölkten Complesso Museale del Monte Verità hoch über Ascona. Doch steckt das Büchlein auch voller Überraschungen. Wer vermutet schon hinter der schlichten historischen Fassade des Hotels Furkablick eines der aufregendsten helvetischen Kunstprojekte?

furkablick2Seit 1983 haben mehr als 70 internationale Akteure – darunter Marina Abramović und Ulay, Daniel Buren, Jenny Holzer, Per Kirkeby, Lawrence Weiner oder Mario Merz – auf der Furkapasshöhe (2427 m ü. M.) gegen Kost, Logis und einen Gotteslohn wundervolle Malerei, Skulpturen, Installationen und Interventionen hinterlassen. Dann kam auch noch Rem Koolhaas und baute das denkmalgeschützte Hotel mit minimalen Eingriffen 1991 behutsam um. Ich möchte jetzt bitte sofort einen Kaffee auf der Sonnenterrasse trinken. Muss mich aber wohl gedulden. Denn das Haus ist nur zur Postsaison von Juni bis September geöffnet.

Alexandra González

Die schönsten Museen der Schweiz – Orte der Kunst. 120 Seiten. Format A6. CHF 16,-. Bestellungen unter www.heimatschutz.ch/shop

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Wer zuerst kommt, kriegt die Braut

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #3

vignette_film4_rzDurch Bollywood-Filme bläst der Wind des Schicksals. Hier treibt er Superstar Shah Rukh Khan und Kajol, seine Langzeitpartnerin auf der Leinwand, erst per Interrail ins Berner Oberland, dann einander in die Arme. Das Drei-Stunden-Epos „Dilwale Dulhania Le Jayenge“ von 1995 war ein Riesenerfolg der indischen Filmindustrie. Danach hatte jede Schmonzette ihre Schweiz-Szene: blitzblanke Alpenromantik für die obligatorischen Songeinlagen. Küsse, gar Sex sind im Hindi-Kino (das sich nur für die Durststrecke vor der Hochzeit interessiert) streng verboten, Ersatz leistet Tanzspaß in Traumlandschaften. DVDIn Saanen nimmt die Lovestory Fahrt auf. Das Beinahe-Paar muss eine kühle Nacht im Stall verbringen, greift zum Cognac. Wer aber in einem indischen Film Alkohol trinkt, wird sterben oder durchdrehen: Wie irre taumelt Kajol durch Gstaad, singt Ungezogenes und wälzt sich – nur mit einem roten Fähnchen bekleidet – im Schnee. Frecher wurde der Krishna-Radha-Mythos nie variiert: Jene paradiesische Liebesgeschichte zwischen einem Hirtenmädchen und dem blauhäutigen Gott, die der Nährboden aller Bollywood-Streifen ist.     Alexandra González

http://bollywoodmachtgluecklich.de/wer-zuerst-kommt-kriegt-die-braut-dilwale-dulhania-le-jayenge/

Auf die Alpe Robiei

SAN CARLO / BAVONA, 16.07.2014 - Itinerario Turistico no. 19: San Carlo - Robiei Funicolare - Giro Lago. copyright by www.steineggerpix.com / photo by remy steinegger

Val Bavona im Tessin ist ein Tal der Superlative. Ein wilderes, steileres und steinigeres gibt es nicht in der Schweiz. Paradoxerweise muss es ohne Stromnetz auskommen, während oberhalb, auf der Alpe Robiei, Unmengen an Elektrizität produziert werden. Nur im Sommer bewirtschaften Bauern das enge Trogtal. Auch Touristen haben sich an ein kleines Zeitfenster zu halten, wollen sie ganz hoch hinaus.

fluchtbergfoto_300Bloß in der kurzen bella stazione, also zwischen Juni und Oktober, bringt eine Luftseilbahn Personen von San Carlo am Talende nach Robiei. Mit ihren 2000 PS und einer Tragfähigkeit von 20 Tonnen (ein LKW könnte auf der Lastbarelle mitfahren) zählt die Pendelbahn zu den stärksten der Welt. Reichlich überdimensioniert für 20 000 Besucher in der ganzen Saison? Zweifellos, doch wurde sie 1965 primär für den Lastentransport zum Bau eines immensen Wasserkraftwerks errichtet.09_Robiei

In dem natürlichen Amphitheater, das die Alpe Robiei am Fuß des Basòdino-Gletschers bildet, zeugt heute nur die Staumauer des Speichersees von dieser gewaltigen hydrotechnischen Anlage aus den Sechzigern. Der größte Teil erstreckte sich unterirdisch auf 60 Kilometern bis hin zum Lago Maggiore. Ein Lehrpfad wurde in einem der Stollen innerhalb des Staudamms angelegt. Er erklärt dessen Funktion, Bauweise und Sicherheit. Wer ein Auge hat für die aparte Beton-Architektur dieser Zeit, wird das Ensemble aus Bahnstationsbauten unter schicken Pultdächern und einem sechseckigen Hotelturm lieben. Selbst die Zimmer, in denen einst die Bauarbeiter logierten, sind in ihrem herrlich schrägen Sixties-Flair erhalten. Für 100 Millionen Franken wurde das Kraftwerk kürzlich modernisiert. Zum Glück war kein Rappen mehr übrig, um das Hotel anzutasten.

Alexandra González

Fotos © Ticino Turismo

Saisonöffnung von Seilbahn und Albergo Robiei: 16. Juni bis 2. Oktober 2016. Den Schlüssel für den Lehrpfad im Inneren der Staumauer gibt es im Hotel. Alpe Robiei, San Carlo (Val Bavona), Tessin, Schweiz. www.robiei.ch