In das Tessin des Vincenzo Vicari

Für Vincenzo Vicari konnte das 20. Jahrhundert gar nicht rasant genug voranschreiten. Gegenüber jeder technischen, medialen und kommerziellen Neuheit war der Luganer Fotograf aufgeschlossen. So experimentierte Vicari (1911 – 2007) früh mit Luftfotografie und fühlte sich von der Leidenschaft für sein Metier vollends ergriffen, wenn er hoch oben eine Kamera gegen die Luft pressen musste, weil er gezwungen war, „sich beim Fotografieren mit dem Oberkörper aus dem Flugzeug zu lehnen“.

Mit demselben Elan hat er zwischen 1930 und 1990 den Wandel im Tessin dokumentiert. Entstanden ist ein komplexes Konglomerat aus Werbebildern für Industriebetriebe und Tourismusbroschüren, Landschaftsaufnahmen, Porträts des sozialen Lebens und des Brauchtums sowie Fotos zu Bauboom und höchster Ingenieurskunst in Form von Wasserwerken. Vicaris Bilderfundus visualisiert die Umgestaltung des Südschweizer Kantons von einem verschlafenen, bäuerlich geprägten Fleckchen Erde zu einem urbanen Motor, der sich trotz seiner Kraft allerdings nur schwerfällig bewegt.

Außerhalb des Tessins ist Vicari noch wenig bekannt, was sich mit der ersten großen monografischen Ausstellung im MASILugano gerade ändert. Dass sich diese Schau nur virtuell besichtigen lässt, macht die begleitende Publikation umso relevanter: Ein handlicher Katalog, der mit 190 meist unveröffentlichten Aufnahmen, überwiegend in Schwarz-Weiß, eine Exkursion durch die Bildwelt dieses vielseitigen Chronisten unternimmt.

Und der rote Faden in dieser Fülle an vollkommen ungekünstelten Momentaufnahmen, Fotoreportagen, Porträts und Postkartenmotiven? Es ist eine von großer Leichtigkeit getragene Sensibilität, die auch noch der größten Bausünde eine Prise Poesie einhaucht. Ewas von dieser Sprezzatura ist sofort zu erahnen, wenn wir das Buch aufklappen und uns der Meister selbst in einer Polyfoto-Serie aus dem Jahr 1940 gleich mehrfach keck entgegenlächelt.   Alexandra González

Vincenzo Vicari  | Fotograf | Das Tessin im Wandel der Zeit

MASILugano, 29.08.2020–18.04.2021

Bildband herausgegeben von Damiano Robbiani. Mit Beiträgen von Antonio Mariotti, Damiano Robbiani, Gianmarco Talamona und Nelly Valsangiacomo, bei Scheidegger & Spiess, 44 Euro.

www.masilugano.ch/de/882/vincenzo-vicari

www.scheidegger-spiess.ch

Auf den Monte Verità

Die Nackten und die Roten: Der Monte Verità war um 1900 die heißeste Kommune des Abendlandes. In den hölzernen Licht-Luft-Hütten der Vegetarier gärten die Ideen für eine bessere Welt. 1926 kaufte der Bankier Eduard Freiherr von der Heydt den gesamten Wahrheitsberg und ließ ein Hotel im Bauhausstil darauf setzen. Die Hautevolee der Zwanzigerjahre logierte hier, nach der Meditation gab es nun Schampus statt Rohkost.

1978 verliebte sich der legendäre Ausstellungsmacher Harald Szeemann in den hoch über dem Lago Maggiore gelegenen Tessiner Ort und dessen Geschichte. Vier Jahre bereitete er seine Schau „Le mammelle della verità“ (Die Brüste der Wahrheit) vor. 975 Original-Exponate, darunter Fotos, Briefe, Bücher, Kunstwerke und Kleidungsstücke, trug er zusammen, um den Lebensreformer-Kosmos neu zu arrangieren. Von 1982 bis 2009 war die Ausstellung in der historischen Casa Anatta zu sehen. Schließlich drohte dem Holzbau aus dem frühen 20. Jahrhundert der Verfall.

Es wurde geschlossen und aufwändig saniert. Jetzt steht die zweite Wiedergeburt des Hügels aus dem Geist der Zivilisationskritik bevor: Am 20. Mai wird die Casa Anatta samt minutiös rekonstruierter Szeemann-Ausstellung erneut eröffnet. Mit dieser Form des künstlerischen Reenactment erweist man nicht nur den Anarchisten und Anthroposophen, den Aussteigern und Nudisten der ersten Stunde Reverenz, sondern auch einem leidenschaftlichen Kurator, der in diesem Haus der Erinnerung „600 Viten mit 600 verschiedenen Paradiesvorstellungen“ genial verdichtet hat.

Alexandra González

Ab dem 20. Mai können die Casa Anatta, Casa Selma und Casa dei Russi besichtigt werden. Der Padiglione Elisarion bleibt weiterhin wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Fondazione Monte Verità
Strada Collina 84
CH-6612 Ascona
Tel. +41 91 785 40 40
Fax +41 91 785 40 50

alle Fotos: www.monteverita.org

Auf die Alpe Robiei

SAN CARLO / BAVONA, 16.07.2014 - Itinerario Turistico no. 19: San Carlo - Robiei Funicolare - Giro Lago. copyright by www.steineggerpix.com / photo by remy steinegger

Val Bavona im Tessin ist ein Tal der Superlative. Ein wilderes, steileres und steinigeres gibt es nicht in der Schweiz. Paradoxerweise muss es ohne Stromnetz auskommen, während oberhalb, auf der Alpe Robiei, Unmengen an Elektrizität produziert werden. Nur im Sommer bewirtschaften Bauern das enge Trogtal. Auch Touristen haben sich an ein kleines Zeitfenster zu halten, wollen sie ganz hoch hinaus.

fluchtbergfoto_300Bloß in der kurzen bella stazione, also zwischen Juni und Oktober, bringt eine Luftseilbahn Personen von San Carlo am Talende nach Robiei. Mit ihren 2000 PS und einer Tragfähigkeit von 20 Tonnen (ein LKW könnte auf der Lastbarelle mitfahren) zählt die Pendelbahn zu den stärksten der Welt. Reichlich überdimensioniert für 20 000 Besucher in der ganzen Saison? Zweifellos, doch wurde sie 1965 primär für den Lastentransport zum Bau eines immensen Wasserkraftwerks errichtet.09_Robiei

In dem natürlichen Amphitheater, das die Alpe Robiei am Fuß des Basòdino-Gletschers bildet, zeugt heute nur die Staumauer des Speichersees von dieser gewaltigen hydrotechnischen Anlage aus den Sechzigern. Der größte Teil erstreckte sich unterirdisch auf 60 Kilometern bis hin zum Lago Maggiore. Ein Lehrpfad wurde in einem der Stollen innerhalb des Staudamms angelegt. Er erklärt dessen Funktion, Bauweise und Sicherheit. Wer ein Auge hat für die aparte Beton-Architektur dieser Zeit, wird das Ensemble aus Bahnstationsbauten unter schicken Pultdächern und einem sechseckigen Hotelturm lieben. Selbst die Zimmer, in denen einst die Bauarbeiter logierten, sind in ihrem herrlich schrägen Sixties-Flair erhalten. Für 100 Millionen Franken wurde das Kraftwerk kürzlich modernisiert. Zum Glück war kein Rappen mehr übrig, um das Hotel anzutasten.

Alexandra González

Fotos © Ticino Turismo

Saisonöffnung von Seilbahn und Albergo Robiei: 16. Juni bis 2. Oktober 2016. Den Schlüssel für den Lehrpfad im Inneren der Staumauer gibt es im Hotel. Alpe Robiei, San Carlo (Val Bavona), Tessin, Schweiz. www.robiei.ch

Die gastfreundlichste Alpenfestung

vignette_strassenrandperlen4Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es überraschende neue Architekturen. Und schöne ältere, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.  #4

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Objekt Neues altes Gotthard-Hospiz auf dem St. Gotthardpass / Adresse Fondazione Pro San Gottardo, CH-6780 Airolo / Koordinaten N 46.559167°, O 08.561667°/ Bauzeit 1623 bis 2011 / Bau-Grund  Es war mal das „Haus des Priesters“ der hier siedelnden Kapuziner / Aktuelle Nutzung  Stilvolle Übernachtungen; Gotthardkapelle integriert / Öffnungszeiten Sobald der Pass Anfang Mai offen ist – bis er im November wieder schließt; www.gotthard-hospiz.ch / Schönster Augenblick  Auf zwei Rädern über die „Tremola“ hochfahren!

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Warum man immer dran vorbeifährt: Weil jeder im Frühjahr schnell nach Italien möchte. Oder an die Seen im Tessin. Seit 1980 nehmen nur noch die Wenigsten die Passstraße.

 

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss! Im Zug durch den Tunnel fahren kann doch jeder. Schon immer aber stiegen Reisende hier herauf. Ein mythischer Ort seit den Langobarden. Europas Hauptwasserscheide, die direkteste Alpenroute zwischen Nord und Süd. Der Aufstieg des Gotthardwegs begann um 1230. Säumer, Soldaten, Handelskarawanen, Zöllner und Postboten der Habsburger nutzten die Teufelsbrücke über die kaum überwindliche Schöllenenschlucht – und produzierten die ersten Alpen-Staus. Das Hospiz gibt es seit einem Lawinenabgang vom Monte Prosa. Kapuziner bewirteten von da an Passanten, Kaufleute und Pferdekutscher. Goethe übernachtete zwischen 1775 und 1797 gleich dreimal hier.

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Das Gästehaus auf 2090 Meter überdauerte die Zeit der ersten Automobile und immer neue Straßen – bis zum Tunnelbau 1980. Dann verlor es an Bedeutung. Jüngst bauten die straperl_gotthardBasler Architekten Miller Maranta das historischen Erbe um: Sie integrierten die alte Kapelle in den trutzigen Bau, gaben ihm ein wehrhaftes Bleidach nach dem Vorbild der Kathedralen und eine organisch-anthroposophische Form. Die neue Holzständerkonstruktion von 2011, typisch für den Kanton Uri, macht aus dem Innenraum eine Fichtenholz-Wohlfühllandschaft. Mit Traumblicken und integrierter Urgemütlichkeit.

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Wie man hinkommt: Im Winter gar nicht. Nach der Öffnung der Passstraße – in der Regel und je nach Wetterlage ab Anfang Mai – per Auto, Rad, Motorrad, Bus, Taxi oder Camper von Andermatt (Uri) oder Airolo (Tessin) aus.

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(copyright Idee, Text und Bilder: Sabine Berthold & Alexander Hosch)