Geniale Schwünge und Aussichten

Kennen Sie die Zeno 3? Das ist eine nach dem italienischen Abfahrts-Olympiasieger von Oslo 1952 benannte, über weite Strecken blaue Piste in Abetone, die auf dem Grat des Gomito beginnt, um dann im unteren Teil in einen toskanischen Buchenwald einzubiegen. Keine 90 Kilometer vor Florenz! Solchermaßen geht es zu in diesem Buch. Und auch in der Ukraine, in Georgien und Rumänien, in Andorra, in Lappland und auf Zypern, auf Island oder Sizilien erwartet man vieles – aber eigentlich keine Skiabfahrten. Wirklich nicht? Doch, doch! 111 Skipisten in Europa, die man gefahren sein muss heißt jetzt ein Werk aus dem Emons Verlag, das es besser weiß. Die „111er Reihe“ aus der Kölner Bücherschmiede versammelt immer wieder ein paar echt originelle und zeitgemäße Reise-Ideen, um Leser zum Träumen zu bringen. Und führt sie – wie in diesem Fall – zu kuriosen, krassen oder denkwürdigen Abfahrten überall in Europa. Einmal sogar auf einen aktiven Vulkan! Die – natürlich nicht versicherbare – Sechsergoldelbahn am 3.357 Meter hohen Ätna wurde 2021 erst neu errichtet (nachdem der Vorgängerlift mal wieder von der Naturgewalt zerstört worden war).
Ein schottisch-schwedisch-deutsches Skifahrer-Dream-Team war hier, jeder auf eigene Faust, unterwegs. Die drei Autoren Christoph Schrahe, Jimmy Petterson und Patrick Thorne arbeiten seit vielen Jahren – und jeweils mit leicht differierenden Rekordambitionen – daran, hunderte Skiparadiese auf allen Kontinenten unter ihre Bretter zu kriegen.

Natürlicherweise interessieren sich Alpine-Kultur-Fans hier am meisten für besondere Hänge, die sich irgendwo zwischen Nizza und Ljubljana verstecken. So ist für Bayern im neuen Band die Garmischer Gletscherabfahrt ausgewählt, während in Balderschwang die FIS-Standard-Strecke mit ein paar knappen und launigen persönlichen Sätzen vorgestellt wird. Viele deutsche, österreichische und Schweizer Pisten waren indes schon im ersten Skipisten-Band der Reihe zu finden, sodass innerhalb des Alpenbogens diesmal eher Geheimtipps in Frankreich, Italien, Slowenien zum Zug kommen.

Blick aus einem Hotel der Skistation Flaine auf die „Faust“-Piste hoch über der Waldgrenze. Unten eine Liftsituation in Flaine mit der Architektur von Marcel Breuer.

Da wir in den französischen Alpen die meisten der Pisten selber kennen, wollen wir hier besonders den 13 ausgewählten Skipisten in den Savoyer Alpen huldigen, sie illustrieren und für die nächste Skisause wärmstens empfehlen: Die Auslese der Autoren reicht von dem legendären 19 Kilometer langen Gletschertraumtrip namens „Vallée Blanche“ hoch über Chamonix über die „Reblochon“-Piste in La Clusaz und die „Combe de Caron“ bei Val Thorens bis zur „Sistron“ im südlichen Isola 2000 (von der aus man aufs Mittelmeer blicken kann). Die „Faust“ über dem Retorten-Skiort Flaine ist eine breite Genusspiste im Grand Massif (nahe des Genfer Sees), die zu zwei Dritteln über der Waldgrenze liegt. Sie gewährt einen genialen Blick hinunter auf Marcel Breuers „Bauhaus-Dorf“, das die vielleicht überraschendste Skistation der Welt darstellt. Die Topographie zeigt typische Felsbänder aus Kalk und Sandstein, die hier überall spröde den Schnee durchbrechen. Bei schönem Wetter überragt der Mont Blanc die Szenerie.

Unterwegs in der Seilbahn zwischen den Dörfern von Les Arcs. Unten rechts der Blick auf Arc 2000. Ganz unten ein Wegweiser im Skigebiet Paradiski mit Richtungsangabe zum Gipfel Aiguille Rouge samt der berühmten schwarzen Piste.

Die „Aiguille Rouge“-Abfahrt vom gleichnamigen Gipfel (3226 Meter) ist ein weiterer Skihöhepunkt der Westalpen. Zwischen und über den Skistationen Arc 1800 und Arc 2000 in der Winterlandschaft der Tarentaise beginnt oben am Lift keine geringere Versuchung als die längste schwarze Skipiste der Welt. Zum Glück gibt´s auch ein paar rote Ausweichstellen. Kein Wunder also, dass hier lange auch eine Speed-Skiing-Strecke existierte, auf der Weltrekorde jenseits der 250 Stundenkilometer erzielt wurden. Seit ein paar Jahren wird genau dieses Areal von einer Zipline / Seilrutsche erschlossen, die Passagieren einen 70-sekündigen „Flug“ über das Areal bei Tempo 130 ermöglicht.

Wer also gern Ski fährt und dabei auch noch am liebsten immer völlig unterschiedliche Landschaften genießen möchte, der liegt mit diesem Buch – nicht nur was die Alpen anbelangt – goldrichtig.

Text & Fotos: Alexander Hosch


 

 

 

 

Das neue Buch:

Christoph Schrahe, Jimmy Petterson, Patrick Thorne: 111 Skipisten in Europa, die man gefahren sein muss, Verlag Emons, 18 €, www.emons-verlag.de 

 

Auf den Gipfeln der Moderne

Bis zu acht Personen bietet Charlotte Perriands „Tonneau“-Hütte Unterschlupf. Entwurf von 1938, realisiert 2012

Spätentschlossene haben nur noch wenige Tage Zeit, um im TGV nach Paris zu sausen und sich in der Ausstellung „Charlotte Perriand: Inventing a New World“ (Fondation Louis Vuitton; bis 24. Februar 2020) von einer Pionierin der modernen Alltagswelt den Kopf verdrehen zu lassen.

L‘ Art de vivre?  Hat diese Stilikone komplett umdefiniert. Erdenschweres wird bei ihr federleicht, Kantiges geschmeidig, Kühles wohlig warm, Eckiges passt ins Runde. Und im Mittelpunkt steht immer der Mensch.

Mit ihren Savoyer Wurzeln trug die weltläufige Architektin und Designerin die Alpen im Herzen. Ihre Passion für das Skifahren und Bergsteigen spiegelt sich in etlichen in der Retrospektive aufgefädelten Projekten wieder und trieb sie an den Wochenenden regelmäßig aus dem Pariser Atelier: „Wir brachen freitagabends zum Jura oder in die Alpen auf und kehrten montagmorgens in das Atelier zurück, nicht immer in guter Verfassung, aber glücklich.“

Modell des Ski-Resorts Les Arcs. Fotoprojektion: Die zur offenen Landschaft hin ausgerichtete Apartmentanlage
Schirm oder Karussell? Dachkonstruktion der „Tonneau“-Schutzhütte

Perriand plante für eine Dutzend Menschen ebenso virtuos wie für Abertausende. So präsentiert diese Schau ihre in der Konstruktion an ein Karussell erinnernde „Tonneau“-Schutzhütte, die 1938 entworfen und 2012 von Cassina realisiert wurde – ebenso wie die französische Skistation Les Arcs (1967-1989). Den Massentourismus domestizierte Perriand, indem sie die lichtdurchfluteten Apartmenthäuser bogenförmig in die Landschaft integrierte und von jeder der zahlreichen Wohneinheiten einen unverstellten Blick in die Berge ermöglichte.

Übrigens, eine Handvoll Personen würde ausreichen, um die Refuges im Nu aufzubauen. Selbstverständlich packte Charlotte Perriand immer mit an (Foto unten).

Text und Fotos © Alexandra González

www.fondationlouisvuitton.fr/en/exhibitions/exhibition/charlotte-perriand.html

 

Rustiklamourös

Wie der letzte Schrei der Designmode einmal in die Alpen kam? Ganz einfach. Man schrieb das Jahr 1946, und Charlotte Perriand war gerade von einer sehr inspirierenden, sechs Jahre dauernden Reise nach Japan und Vietnam zurück. Sie übernahm gleich als Erstes den Auftrag, in den französische Alpen ein Hotel der neuen Art einzurichten. Für die erste Skistation der neuen Art: Méribel. Unter anderem entwarf die Architektin und Designerin damals für das Le Doron einen Hocker, der an die Melkschemel der Kuh- und Schafhirten erinnerte. Die kannte sie, weil sie ihre Kindheit in Savoyen, nicht allzuweit von den „Drei Tälern“, zu denen Méribel nun gehört, verbrachte hatte.

Auch wenn auf heutigen Auktionen die sechsstelligen Erlöse eher Unikate erzielen, die Perriand um 1927 mit Le Corbusier oder in den 1950ern mit Jean Prouvé entwarf: Der Hocker Méribel wurde ihr populärstes Möbel. Er ist es immer noch. Denn den minimalistischen Schemel, der sich auch als Tischchen gut macht, gibt es als Reedition bei Cassina. Nur das Hotel Le Doron sieht innen jetzt leider ganz anders aus. Schließlich müssen die schwer begehrten Einrichtungen aus der alten Zeit alle auf Versteigerungen (siehe dazu mein Bericht in der SZ am 21./22. Oktober über die Auktion „Charlotte for ever“) ihre Holz-Haut zu Markte tragen.

    Unbeschadet dagegen: Perriands Berg-Architektur. Lange Zeit nach Méribel ließ sie zwischen 1960 und 1990 in neuen Skidörfern auf 1600, 1800 und 2000 Meter Höhe für mehrere zehntausend Gäste im Jahr die Hotels und Residenzen von Les Arcs bauen. Sie sind wahre filigrane Gegengebirge aus Menschenhand, mit viel Holz, Glas und Sonnenterrassen – überall scheinen die Strahlen bis in die letzten Winkel. Unsere Fotos stammen aus den Jahren 2012 bis 2016 und zeigen u. a. die Résidence de La Cascade in Arc 1600 von Perriand und Guy Rey-Millet sowie andere Gebäude, die sie dort zusammen mit dem Atelier d`Architecture de la Montagne (AAM) entwickelt hat; sie zeigen auch den heute über 90-jährigen Rey Millet und sein persönliches Mini-Appartement in La Cascade / Arc 1600 – eines der wenigen, das noch original eingerichtet ist. Mit der legendären Fensterbank, mit den Schwenklampen, mit den Hockern. „Wir waren ein Team ohne Anführer“, sagte uns Rey-Millet 2012 im Interview, als wir zum ersten Mal da waren. „Aber Charlotte Perriand war die Wichtigste – unsere Muse!“

Wir Gäste staunten bei ihm über orange-emailliertes Metall an den Herdzeilen und über eine Kunststoff-Kapsel mit Komplett-Bad. Und uns begeisterten die vielen klugen, eleganten Stauraum- und Ablagemöbel. Kästchen, Bibliotheken, Sideboards und Regale waren in ihrem Leben die größte Domäne der Charlotte Perriand – nichts hat sie mehr fasziniert. „Luxus bedeutet nicht Gold oder Baccaratschliff“, rief uns der alte Architekt damals noch zum Abschied zu. „Wahrer Luxus ist, wenn man den Raum zu nutzen weiß!“

 

 

Text: Alexander Hosch

 

 

 

Fotos: Sabine Berthold

Frühjahrsskifahren

AK_LESARCS-2Die frohe Botschaft für Frühjahrsskifahrer kommt aus Frankreich, genauer: Savoyen. Dort, wo die Skistationen der Architekturmoderne nicht unten im Tal, sondern so hoch wie möglich, zwischen 1600 und 2000 Metern, angelegt worden sind, braucht man auch im April nicht auf das kalte Feuer aus den Schneekanonen zu warten, um guten Gewissens seine Kurven zu ziehen. Das weiße Zeug ist einfach sowieso da. Manche dieser Reißbrett-Skidörfer liegen sogar auf mehr als 2300 Metern – so wie Val Thorens im größten Skigebiet der Welt, den Trois Vallées in der Tarentaise. vignette_alpenstaunenDort kann man sogar im Mai noch Skifahren. Les Arcs, etwas weiter nördlich, liegt nicht ganz so hoch – aber dafür führt dieses Skigebiet an der Aiguille Rouge im Vanoise-Massiv auf in Europa kaum schlagbare 3.226 Meter Höhe. Und meist stellt sich, gleich gegenüber des Gondelausstiegs, der Mont Blanc in den Blick. Alles ist im Frühjahr übersichtlich und klar: die Zahl der Menschen, die Aussicht, die in Savoyen stets bestens präparierten Pisten. Durcheinanderkommen kann man trotzdem – wie an der Skischaukel zwischen Les Arcs und La Plagne der Wegweiser-Schnappschuss von Anfang April (oben) beweist. Da wünscht sich der wegsuchende Pistenfuchs doch gleich in einen der vielen vollendet verständlichen französischen Autokreisverkehre zurück.  ah

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Das Bulle Café im Skigebiet bei Les Arcs 2000