Schon öfter haben wir bei Alpine Kultur über neue Schutzhütten, Bücher oder Ausstellungen des Deutschen Alpenvereins berichtet. Jetzt ist es einmal umgekehrt: Die Redaktion der alpinwelt, Vierteljahresschrift der Sektionen München & Oberland des DAV, hat uns gebeten, zur Herbstausgabe 2020 einen Text über den Stilwandel in der alpinen Architektur beizutragen. Alexander Hoschs Essay beschäftigt sich unter anderem mit Umnutzungen, mit kleinformatigen Wohnarchitekturen und mit Aspekten der Nachhaltigkeit und Langlebigkeit des neueren Bauens in den Bergen. Außerdem geht es darum, wie man etwa Retrobauten der 1970-er-Jahre unter den Gipfeln klug wiederverwenden kann. Und wie zwischen Steinriesen, Hügeln, Wäldern und Wiesen Flächenfraß und Monsterstadelei zu vermeiden sind. Unsere Bilder zeigen, von oben nach unten, die Hüttentürme des Hotels Tannerhof in Bayrischzell (Architekt Florian Nagler) von 2011, das Cover der aktuellen alpinwelt, die Kapelle Salgenreute (2017) in Krumbach, Vorarlberg (Architekt Bernardo Bader) und die Frühstücks-Kugel von 1972 inmitten des Tauerngebirges, oberhalb von Sportgastein am Liftende des Gebiets Ski Amadé (Architekt Gerhard Garstenauer).
Fotos: Alexander Hosch
Die alpinwelt gibt es nicht am Kiosk. DAV-Mitglieder bekommen sie zugeschickt. Sie liegt außerdem in zahlreichen Sportfach- und Klettergeschäften in und rund um München kostenlos aus. Oder Link zum Download des Heftes anklicken: www.alpenverein-muenchen-oberland.de .
Mit dem Auge eines Kabarettisten macht sich Lois Hechenblaikner immer wieder nach Ischgl auf: Um in den Schifahrermonaten den Ort und seine Spaßfolterexzesse zu dokumentieren. Seit 26 Jahren. Da tun sich ein paar Fragen auf: Ist der Fotograf, was Musik und Ästhetik angeht, vielleicht selbst Masochist? Oder locken dort im Verborgenen die Fifty Shades of White? Die Antwort ist einfacher und komplizierter zugleich: „So etwas muss eine Einschreibung auf der Seelenlandschaft sein, sonst tust du dir das nicht an“, sagte der Tiroler gerade zur SZ und begründete seinen Zwang biografisch: Er sei – im Alpbachtal – selbst als Sohn einer Gastwirtsfamilie aufgewachsen.
Jetzt hat die Coronakrise das eigentlich multiple Problemphänomen der Après-Skistadelwelten auf ein einziges Stichwort reduziert, das inzwischen schon wie eine Diagnose klingt: Ischgl. Behördenversagen und Leichtfertigkeit sorgten für die Sofort-Ansteckung von Skifahrern aus aller Welt mit Covid-19 und für katastrophale Presse überall. Ein Vertrauensschock, von dem sich der Ort so schnell nicht erholen wird.
Nun ist gerade Hechenblaikners gleichnamiger Fotoband erschienen, – wie die Vorgänger „Volksmusik“ und „Winter Wonderland“ beim Steidl Verlag. Der Fotograf konnte dafür aus 9000 Ischgl-Fotos wählen. Stilistisch ist er mit seiner Leica meist in den Spuren der anekdotischen und der dokumentarischen Pressefotografie des 20. Jahrhunderts unterwegs. Zeigen, was ist. Das klingt altmodisch, ist aber ein großes Kompliment. Weil der Tiroler nicht wie andere das tun, bereitwillig auf das Stilmittel der Ironie verzichtet – nur weil das neuerdings bei manchen als politisch unkorrekt gilt. Hechenblaikner urteilt mit jedem Bild. Die Fotos sind laut, der Inhalt kann grob und hässlich sein. Das Werk aber ist gut und subtil. Der Betrachter kann das heftige Urteil teilen. Oder lieber den perfekten Bildaufbau bewundern.
So durchdringt ein schaurigschöner Charme des Schrecklichen das Buch und alle seine Fotos von Betrunkenen und anderweitig Enthemmten. Jodelsuff, Trachtenexzesse und chauvinistische T-Shirt-Botschaften bevölkern darin die Tränken vor den Monsterpensionen, deren Gesamtheit Hechenblaikner neulich – Stephen King lässt grüßen – in einem TV-Beitrag ein „alpines Shining“ genannt hat. Als Ästhet weiß er genau, wie gut den Schlechtwetter-Kompositionen des ewigen Graubraun, Grün und Weiß der Berge im Bild manchmal die grellen Farben der Bierträger, Anoraks oder in Vitrinen geparkten Luxusautos tun. Das macht er sich auf seiner Spurensuche zunutze. Nur für einzelne Aufnahmen holt er Optiken oder Techniken der Becher-Schüler zu Hilfe, wobei diese explizit künstlerischen Fotos mit ihrer Maximalästhetik eher als Thementrenner und wie vegane Beilagen wirken. Das Beef aber kommt blutig.
Bleibt eine Frage: Geht´s nächsten Winter in Ischgl wieder genau so weiter? Keiner weiß es. Fest steht nur, dass garantiert der Fotograf wieder kommen wird. Ein sehr gutes, ein wahrhaftiges Buch.
Text: Alexander Hosch
Lois Hechenblaikner: Ischgl, 2020, Steidl Verlag, 224 Seiten. Fotoband mit einem Essay von Stefan Gmünder. ISBN 978-3-95829-790-6, 34 Euro.
Spätentschlossene haben nur noch wenige Tage Zeit, um im TGV nach Paris zu sausen und sich in der Ausstellung „Charlotte Perriand: Inventing a New World“ (Fondation Louis Vuitton; bis 24. Februar 2020) von einer Pionierin der modernen Alltagswelt den Kopf verdrehen zu lassen.
L‘ Art de vivre? Hat diese Stilikone komplett umdefiniert. Erdenschweres wird bei ihr federleicht, Kantiges geschmeidig, Kühles wohlig warm, Eckiges passt ins Runde. Und im Mittelpunkt steht immer der Mensch.
Mit ihren Savoyer Wurzeln trug die weltläufige Architektin und Designerin die Alpen im Herzen. Ihre Passion für das Skifahren und Bergsteigen spiegelt sich in etlichen in der Retrospektive aufgefädelten Projekten wieder und trieb sie an den Wochenenden regelmäßig aus dem Pariser Atelier: „Wir brachen freitagabends zum Jura oder in die Alpen auf und kehrten montagmorgens in das Atelier zurück, nicht immer in guter Verfassung, aber glücklich.“
Perriand plante für eine Dutzend Menschen ebenso virtuos wie für Abertausende. So präsentiert diese Schau ihre in der Konstruktion an ein Karussell erinnernde „Tonneau“-Schutzhütte, die 1938 entworfen und 2012 von Cassina realisiert wurde – ebenso wie die französische Skistation Les Arcs (1967-1989). Den Massentourismus domestizierte Perriand, indem sie die lichtdurchfluteten Apartmenthäuser bogenförmig in die Landschaft integrierte und von jeder der zahlreichen Wohneinheiten einen unverstellten Blick in die Berge ermöglichte.
Übrigens, eine Handvoll Personen würde ausreichen, um die Refuges im Nu aufzubauen. Selbstverständlich packte Charlotte Perriand immer mit an (Foto unten).
„Wolke“ heißen alle ihre Entwürfe seit dem Gründungsjahr 1968. Damals und ungefähr bis 1995 aber nummerierte das Architekturbüro coop Himmelb(l)au erst einmal nur Kunstaktionen, Skulpturen, Cafés, Bars oder kleine Pavillons durch. Mittlerweile reicht der Wolkengürtel rund um die Welt – von Aalborg in Dänemark und Lyon in Frankreich bis Dalian oder Shenzhen in China, Busan in Südkorea und Los Angeles in den USA. Und er umfasst Großprojekte: Museen, Opern, die BMW Welt, Banken, Hochschulen.
Diese aktuellen Ikonen kommen alle vor in der neuen Filmdokumentation von Mathias Frick über die Architekten. Dennoch geht es vor allem zurück: nach Österreich, wo die Geschichte von coop Himmelb(l)au anfing und wo Wolf D. Prix, der unumschränkte Matador des Büros, beeinflusst unter anderem von Keith Richards´ Gitarrenriffs, seit 50 Jahren gegen Bürokratie und Architekturfolklore kämpft. Gegen den Wiener Barock kämpfte er anfangs auch. Doch wenn man genau hinschaut: Ist der – in seiner zeitgenössischer Gestalt – nicht längst ein genuiner Teil der himmelblauen Architektur?
„Architektur muss brennen“ zitiert im Titel ein frühes, radikales Prix-Gedicht. Der Film hat im Zentrum heitere und melancholische Interviewausschnitte mit Prix. Im Büro in der Spengergasse im 5. Wiener Bezirk Margareten. Im Haus Soravia am Millstätter See, das in Kärnten liegt, aber fast wie eine Tropenvilla aussieht. Oder im verlassenen, teilrestaurierten Elternhaus an der slowakischen Grenze, wo Prix in Hainburg einst als Sohn eines Architekten aufgewachsen ist und 2011 die Martin-Luther-Kirche gebaut hat. Der befreundete Bildhauer Erwin Wurm kommt in der Dokumentation zu Wort, ein Wissenschaftler, Architekturjournalisten. Einmal sieht man den jungen Prix für ein frühes Kunsthappening in einer durchsichtigen Wolke durch Wien laufen. Das einzige Schweizer Vorhaben, das für die Expo 2002 auf- und später leider wieder abgebaute Arteplage-Projekt auf dem Bieler See, erhält prominent Raum. Eine andere Szene zeigt den legendären Flammenflügel von 1980 auf dem Steirischen Herbst in Graz. Dabei entsteht in der Summe der Eindruck, dass all die kleinen Projekte in der oder rund um die Alpenrepublik – wie das Alban-Berg-Denkmal, das 2016 vor der Wiener Staatsoper aufgestellt wurde – dem Schöpfer Prix persönlich womöglich wichtiger sind als all die Weltarchitekturen der letzten Jahre.
Prix erzählt: Über das Zeichnen der Projekte aus dem Unbewussten heraus. Über die wiederkehrenden Motive – Kegel, Türme, Rampen, Treppen ins Nichts. Er verrät auch, wo sie herkommen – etwa aus der Inspiration einer Förderanlage in Hainburg an der Donau. Der zweite coop-Gründer, Helmut Swiczinski, ist in dem Film im Geiste immer dabei. Obwohl er längst ausgestiegen ist, weil er – so Prix´ Erklärung – das Wachsen der Projekte und des Büros nicht schätzte. Man merkt, wie leid Prix das immer noch tut, und wie wichtig ihm der Zauber des Anfangs ist. Aber es ist auch gut, dass coop Himmelb(l)au die institutionellen Aufträge für das Musée des Confluences in Lyon und die Europäische Zentralbank in Frankfurt durchgezogen haben, trotz gewisser Einschränkungen durch die Bauherren oder die technische Überwachung. Warum sollte man den so erfolgreichen, aber oft auch so langweiligen Problemlösern in der Architektur auch noch die letzten zwei Prozent der Projekte in der Baukunst überlassen? Die Nähe des Büros coop Himmelb(l)au zur Kunst war lange Zeit eine Bürde, ehe sie sich doch noch als Glücksfall für die Architekten erwies (und für die Architektur). Bis 2000 bauten sie so gut wie nichts. Danach ging der Erfolg der Vollstrecker von Phantasie auf der Baustelle durch die Wolken.
Text: Alexander Hosch
„Architektur muss brennen. Wolf D. Prix und coop Himmelb(l)au“, Film von Mathias Frick, navigator film/hook film, DVD, 56 Minuten, 2019, www.navigatorfilm.com
www.coop-himmelblau.at
Die Villa S. wird auf 8 Seiten mit Text, Bildern, Plänen und Schnitten auch in meinem Bildband vorgestellt, der die weltweit besten Villen der beginnenden 2000-er Jahre zeigt: Traumhäuser am Wasser, Alexander Hosch, Callwey Verlag, 2012, ISDN 9783766719775, www.callwey.de.
Klimazeugen von der Eiszeit bis zur Gegenwart. Der Autor, Polarforscher und Glaziologe Gernot Patzelt hält den Lügnern und den Leugnern und der menschengemachten Naturzerstörung jetzt die Gletscher selbst entgegen. Mit ihrer Geschichte, mit ihrer Gestalt, mit diesem nagelneuen Buch.
Dabei geht es hier erst einmal um die reine Schönheit. Denn die Bilder, mit denen Patzelt hauptsächlich arbeitet, sind faszinierende alte Aquarelle und Tuschezeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Caspar Wolf, Jean-Antoine Linck und Samuel Birmann, Thomas Ender und Ferdinand Runk rückten den großen Gletschern Europas wie der Pasterze am Großglockner, den Eiswüsten Bossons und Mer de Glace unter dem Mont Blanc sowie dem Grindelwaldgletscher zuerst mit Seilen und Steigeisen, vor Ort dann auch mit Pinseln und Tuschfedern zuleibe. Vor allem die hochattraktiven Arbeiten der beiden Letzteren, sie waren Kammermaler des österreichischen Erzherzogs Johann, geben diesem neuen Werk sein Gesicht. Der Erzherzog schickte Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder Abordnungen los, um eine Bestandsaufnahme seines Territoriums mit diesen wundervollen Naturerscheinungen zeichnen zu lassen. So wurden aus Zeichnern und Landschaftsmalern fast automatisch nebenbei auch Forscher, Dokumentare, Chronisten. Denn so gut wie niemand sonst wagte sich in dieser Zeit, in der die abergläubischen Menschen im ewigen Eis die Begegnung mit Mary Shelleys Frankenstein oder anderen Dämonen fürchteten, in diese Höhen.
Patzelt, emeritierter Geografie-Professor der Universität Innsbruck, konfrontiert die Wasserfarbenbilder aus der Zeit, in der Europas Gletscher ihre maximale Ausdehnung erreichten, mit aktuellen Fotografien ihrer kläglichen Reste. Er ergänzt sein Werk um zahlreiche wissenschaftliche Daten und Fakten der letzten 50.000 Jahre, um Diagramme und Statistiken. So ist ein vielfach lohnendes Monument entstanden – schön, klug und wissenschaftlich, geschmückt von vielen doppelseitigen Ansichten. Wenigstens während man dieses vor wenigen Tagen neu erschienene Buch durchblättert und ansieht, herrscht Eiszeit für dummes Gezwitscher und Gequassel.
Text: Alexander Hosch
Unsere Abbildungen zeigen österreichische Landschaften in den Ostalpen: Gletscher über dem Gasteinertal, am Großvenediger und am Großglockner. Die originalen Aquarelle und Tuschebilder von Thomas Ender und Ferdinand Runk entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
„Gletscher. Klimazeugen von der Eiszeit bis zur Gegenwart“, von Gernot Patzelt, Hatje Cantz, ISDN 978-3-7757-4535-2, 52 Euro. www.hatjecantz.de
In den letzten Monaten haben mein Blog-Kollege Alexander und ich unsere Köpfe ungewöhnlich selten zusammengesteckt. Dies lag ein wenig daran, dass er sich in ein weiteres seiner Buchprojekte vergraben hatte. Nun ist „Winzig alpin“ endlich erschienen: Alexanders handliches Kompedium der hoch oben gelegenen Tiny Houses, Almhütten, Baum- und Bushäusschen, Refugien, Konzertboxen etc. im Mini-Format.
Von meinem Kompagnon darf man hochinformative, gründlich recherchierte Texte mit einem gewissen Twist erwarten wie auch architektonische Entdeckungen. Wer kennt schon Raniero Campigottos Starlight Room in den Dolomiten, ein nur elf Quadratmeter messendes gläsernes Hotelzimmer unter den Sternen, das sich um seine eigene Achse dreht? Und wer ist zu Marcel Breuers Skifahrer-Kapelle in Flaine, Haute Savoie gepilgert, seit sie 2014 saniert wurde? Sabine Berthold – Dritte in unserer Alpine-Kultur-Combo – lässt sie mit ihren tollen Fotografien naherücken.
Natürlich haben es mir vor allem die Kunst-Stationen in diesem Buch angetan. Allen voran James Turrells Skyspace am Engadiner Piz Uter, wo täglich in einem subtilen Lichtspektakel die Dämmerung transzendiert wird. Gerne würde ich auch einmal in das verrückt-luftige, durch die Schweiz vagabundierende Null Stern Hotel der Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin einchecken. Es besteht aus kaum mehr als einer einzigen Wand, einem Doppelbett, Nachttischlein, Lampe und einem alten Röhrenfernseher, der Witze aus der Region ausstrahlt und dem Housekeeping zur Kommunikation dient.
Wir allen wissen, zu welchem Rummelplatz die Alpen in den letzten Dekaden verkommen sind. So ist das womöglich die schönste Botschaft dieser Publikation: Es gibt sie noch, die widerspenstigen Bauherren, die diesem Wahnsinn mit nachhaltig konzipierten, fantasievollen Raumwundern entgegensteuern.
Sie war befreundet mit Klaus und Erika Mann, mit Therese Giehse, Carson McCullers, der Rennfahrerin Maud Thyssen, doch ihre Modernität stellt alle in den Schatten. Diese Frau hatte vor nichts Angst – außer vor dem Stillstand.
Annemarie Schwarzenbach, androgyn, schön, reich, rumpelte im schicken Ford-Cabriolet über die Schotterpisten des Mittleren Ostens, streifte durch den von Armut geprägten Baumwollgürtel der USA und drang immer tiefer ein in Afrikas Herz der Finsternis, den Kongo. Nicht aus reiner Abenteuerlust, sondern mit einem sozialen und politischen Gewissen als Motor.
In ihren Reisefeuilletons ist sie an den Menschen ebenso nahe dran wie an den Landschaften. Wenn es für die Schriftstellerin, Reporterin, Fotografin, Antifaschistin und Morphinistin überhaupt einen Ruhepol gab, so war er das Engadin, ihre Wahlheimat. Und wer sich heute in Sils mit einem Buch dieser rasend progressiven Gestalt blicken lässt, wird womöglich schnell Freundschaften schließen.
Sils ist Endstation. Das Glitzern der Vergnügungssüchtigen in St. Moritz weit weg. An den Rand des Hochplateaus kommt nur der, der wirklich her möchte. Hier endete am 15. November 1942 das irrlichternde Leben der am 23. Mai 1908 in Zürich geborenen Industriellentochter. Erst 1987 setzte der Wirbel um die nach ihrem Tod bald völlig in Vergessenheit geratene, in keinem Literaturlexikon erwähnte Autorin ein. Sie wurde wiederentdeckt als feministische Galionsfigur, die unter persischen Turkmenen campierte und im Kohlerevier bei Pittsburgh recherchierte, während die Frauen zu Hause nicht einmal an die Wahlurnen durften. Erst im vergangenen November hat das Schweizerische Literaturarchiv, das Schwarzenbachs Nachlass pflegt, mehr als 3000 ihrer Fotografien auf Wikimedia Commons online gestellt: überwiegend Reisebilder aus vier Kontinenten, viele private Schnappschüsse ihrer Bohème-Freunde.
Heute taugt Annemarie Schwarzenbach zur Kultfigur. Auch zum Urbild einer Pop-Heroine. War Andy Warhols Mondgöttin Nico, die Sängerin von Velvet Underground, nicht ihre Wiedergängerin? Düsteres Charisma, surrealistische Klagelieder, den Drogen bereitwillig geopferte Schönheit. Dieser schwarze Stern. Geboren vor 110 Jahren.
Isel, Soca, Ammer, Lech, Drôme – die haben was gemeinsam. Sie sind unter den letzten wilden Flüsse in den Alpen, mäandern streckenweise noch natürlich, unbegradigt, ohne Beton. Sie entsprechen dem Klischee, das wir uns von einer Fluss-Architektur der Natur erträumen, aber zu selten vorfinden, da sich immerzu alles nach der Wasserwirtschaft, der Energiewirtschaft, der Landwirtschaft oder anderen Erwerbswirtschaften richten muss. Die neue Sonderausstellung „gerade wild. Alpenflüsse“im Alpinen Museum des Deutschen Alpenvereins in München – übrigens direkt an dem in den letzten Jahren quasi wieder „ausgewilderten“ Fluss Isar gelegen – erklärt mit einem Papierrollendesign und ein paar Zahlen und Fotos Erschreckendes: Nämlich, dass Europas Flüsse lediglich im ein(!)stelligen Prozentbereich ökologisch gesund sind. Ist das Fluss-Kultur?
Da denken wir gleich voller Hoffnung an den Tagliamento in Nordostitalien, mit reichlich Auenland, den letzten Wildfluss seiner Art in Mitteleuropa. Innerhalb eines Tages kann er anschwellen von 30 Meter Breite auf 1000 – das ist 1 Kilometer… Auch erschreckend, ja. Andererseits sind seine Biodiversität und Dynamik enorm. Aber die anderen: Wie richten wir das wieder? Alle Alpenflüsse, ausnahmslos, sind bedroht – durch Pumpenspeicherkraftwerke etc. Wann kümmern wir uns darum? Text und Fotos: Alexander Hosch
Man muss sich die Schweiz durchlöchert wie einen Emmentaler Käse vorstellen. Hauptverkehrsadern sprengen die Eidgenossen am liebsten als Tunnel durch den Fels. Doch die Kulturgeschichte des Transits beginnt hoch oben, bei den Wegen, die sich über die Berge schlängeln: Uralte Saumpfade, Napoleons Alpentrassen und Kutschenwege der Belle Époque veranschaulichen den steten Flow von Waren, Menschen und ihren Ideen. Leider sind nicht all diese historischen Passagen in ihrer Originalsubstanz erhalten. Umso erfreulicher, dass eine neue Publikation der Baukulturorganisation Schweizer Heimatschutz einige der bestehenden Strukturen erlebbar macht. Dazu fischte man 35 Wanderrouten aus einem Pool alter Transportstrecken, die seit den 1980er Jahren erforscht und kartiert wurden.
Doch wo beginnen? Entlang der bernischen Salzstraße Via Salina, auf der das für die Käseherstellung so bedeutende weiße Gold aus dem Ausland über ein mittelalterliches Wegesystem mit eingetieften Radspuren gekarrt wurde? Oder an der Alten Axenstraße mit ihren Panoramaaussichten auf den Vierwaldstättersee? Ein fulminanter Start wäre auch die Tour auf der Fährte Napoleons, der 1805 am Simplonpass die erste Kunststraße der Alpen fertigstellen ließ.
Ambition macht selbst vor Wasserwegen nicht halt. Nichts Geringeres als eine schiffbare Traversale zwischen dem Mittelmeer und der Nordsee wollte man im 17. Jahrhundert im Waadtland verwirklichen. Allerdings: Nach zehn Jahren Bauzeit kapitulierten die Visionäre angesichts 59 noch zu bezwingender Höhenmeter und 40 Schleusen, die hätten realisiert werden müssen. Die Route entlang des Ancien Canal d’Entreroches erzählt von diesem zerschellten Traum. Auch die Baumeister der 1811 begonnenen Verbindung von Bern zum Gotthard über den Sustenpass mussten ihren Ehrgeiz hier oben begraben – sie wurde nie fertiggestellt. Den Abstieg zu Fuß entlang der ursprünglich geplanten Trasse versüßen heute Ausblicke auf eine zweite atemraubende Serpentinenstraße, die erst 1946 in die Landschaft eingebettet wurde.
Sämtliche lose Routenblätter sind mit detaillierten Kartenausschnitten, Fotografien sowie Tipps zur Reiseplanung ausgestattet und in einem handlichen Schuber untergebracht. Der Weg ist das Ziel. Wer also im Sommer mal wieder in einer Schweizer Blechlawine feststeckt, hat neben Proviant und Langmut besser auch diese Publikation im Gepäck. Zumindest um sich wegzuträumen. Alexandra González
Irritationen sind die Würze des Lebens. Es war eine der besten jüngeren Ideen der alpinen Architektur, den Bregenzerwald mit sieben Buswartehäuschen aus der Hand internationaler Architekten zu bestreuen. Architekturzentrum Wien und Vorarlberger Architektur-Institut taten sich dafür mit dem neugegründeten Verein Kultur Krumbach und lokalen Handwerksbetrieben zusammen. Beauftragt wurden unter anderem: der Chilene Smiljan Radic, Pritzkerpreisträger Wang Shu aus China und die Spanier von Ensamble Studio.
Die gelben Landbusse halten nun seit 2014 im Tausend-Seelen-Dorf Krumbach und seiner Umgebung bei extrovertierten kleinen Paradiespavillons, die vor dem Wetter schützen und die Gedanken entführen sollen. Zwischen Schule, Tennisplatz, Gasthaus und Jägerheim. Auf Hügelspitzen, in Talsenken und neben Tannenwäldchen.
Für die irritierendste Irritation kann man sich bei Sou Fujimoto aus Japan bedanken. In Vorarlberg kommt er mit einer Kleinigkeit groß raus. Man übersieht sein Mikado aus der Ferne fast: Der Architekt legte in Krumbach statt einer Hütte einen weißen Stangenwald an, der abstrakt an eine Gruppe
Bäume erinnert. Das ist Hoch-Kultur: Wartende können die Metall-Äste über Holzstufen erklimmen. Bei leichtem Regen beschirmen einen die Trittstufen (ein bisschen). Eine heitere Etüde, die sehr gute Laune macht. Moderne Architektur kommt erst bei den Menschen an, wenn sie ihren Alltag durchdringt, philosophiert Jürgen Habermas. Hier ist das ganz wunderbar gelungen. Alexander Hosch Fotos: Sabine Berthold
Cookie-Zustimmung verwalten
Um dir ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn du diesen Technologien zustimmst, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn du deine Zustimmung nicht erteilst oder zurückziehst, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.
Funktional
Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.