Von Tiers bis Tizian

 

An den Dolomiten ist für den, der schon immer gern in dieses Gebirge reiste, oft genau das am interessantesten, was er dort nie gesucht hätte. Tizian etwa! War das nicht dieser geniale Renaissance-Maler, der in Venedig ein kardinales Rot erfunden hat? Und der die dramatisch-edlen Madonnen auf seinen Gemälden in fast prunkhaft elegante Damen verwandelte? Der außerdem ein ums andere Mal raffinierte Porträts von Päpsten oder Kaiserinnen umsetzte, natürlich in deren eigenem Auftrag? Genau das war Tizian. Aber ein Bergbub war er eben auch. Geboren ist Tiziano Vecellio um das Jahr 1490 in Pieve di Cadore, heute ein Wintersportort in der Provinz Belluno und nahe am Westrand des Friaul gelegen. Dort stand sein Elternhaus. Der neue Guide 111 Orte in den Dolomiten, die man gesehen haben muss, erinnert uns daran.

Das Museum, das heute in Tizians einstigem Elternhaus Gäste empfängt, ist eine dieser tollen Stellen. Natürlich sind manche Plätze in der Auswahl erwartbar, etwa die berühmten Drei Zinnen, die alte Bahn im Grödnertal, die Unesco-geprüfte Bletterbachschlucht oder die Vajolettürme bei Tiers. Andere, vor allem die jüngeren Preziosen aber sind höchst überraschend – wie die mehr als 2000 Meter hoch gelegene Oberholzhütte der Bozener Architekten Peter Pichler und Pavol Mikolajcak. Unter dem Eggentaler Horn erbaut, dem mit 2799 Metern höchsten Gipfel des Latemar, ist die Fichtenkonstruktion von 2016 samt ihrer Lärchenholzhülle ein beeindruckend avantgardistisches Verbindungsglied zwischen gestern und heute. Diese kühne Architektur erzählt uns von der Zukunft der Bergsteigerei. Natürlich kann man einkehren, es gibt eine Sesselbahn, und der Themenwanderweg Latemar Natura mit 15 interaktiven Stationen fängt hier an. Auf dem Gipfelplateau des Kronplatz bei Bruneck irritiert noch eine weitere frivole Architektur – Zaha Hadids im Jahr 2015 vergrabenes sechstes Messner Mountain Museum Corones, hier abgebildet, in dem auf 2275 m Gemälde, Fundstücke und Erinnerungen aus der Geschichte des Alpinismus untergebracht sind. Aus dem Berg ragen lediglich drei futuristische Erker aus Beton, Glas und Metall heraus. Es ist das höchstgelegene Museum Südtirols, und im Moment versucht es saisonbedingt gerade, die Pistenfreaks im Skirama-Kronplatz-Gebiet in eine kleine Kulturpause zu locken.

Und dann die Cliffhangerwand über Cortina d’Ampezzo! Sie ist einer der beliebtesten alpinen Klettergründe für unzählige Hollywoodproduktionen der letzten 70 Jahre. Unter anderem wurden hier Der rosarote Panther, Katastrophenfilme und Produktionen mit Sophia Loren, Sylvester Stallone und Clint Eastwood gedreht, um nur die berühmtesten Schauspieler zu nennen. Aber was genau es mit der Reifeprüfung für Extremkraxler an der Faloria-Seilbahn auf sich hat, ist sonst nur den Spezialisten bekannt. Das und vieles andere erfährt man in diesem kleinen Band, der für seine Leser deshalb eine kleine Schatzbox darstellt. Das Kameraparadies Dolomiten wird hier wie ein Promi vorgestellt: Jeder der 111 Orte zwischen Südtirol, dem Trentino, Friaul und Venetien bekommt eine Seite, ein ganzseitiges Foto (oder maximal zwei) – und einen kleinen Steckbrief. Sehr schönes Buch!

© Text und Fotos: Alexander Hosch

 

 

Giulia Castelli Gattinara. 111 Orte in den Dolomiten, die man gesehen haben muss. Mit Fotografien von Mario Verin, 240 Seiten, ISBN 978-3-7408-1972-9. 18,00 €, Emons Verlag, 2024

 

 

Das Argusaugenhaus von Graz

Mit Zaha Hadid von oben in die Alpen zu schauen, das geht schon länger. In Innsbruck muss man dazu nur im Turmstüberl der von der Avantgarde-Architektin gebauten Bergiselskischanze einkehren. Sie überragt die Brennerautobahn als modernes Tiroler Maskottchen. Just seit Beginn der Coronazeit – Februar 2020 – ist jetzt auch der Hadid-Blick von unten auf die Berge möglich: Aus der Stadtmitte von Graz heraus.

In Richtung Klagenfurt erblickt man die Lavantthaleralpen mit den steirischen Gipfeln Ameringkogel und Rappoldkogel. Und im Norden den 1445 Meter hohen Grazer Hausberg Schöckl (von dessen Spitze aus wiederum sich sogar der Triglav in Slowenien erspähen lässt). Aber zurück in die City. 17 Jahre dauerte es, bis Zaha Hadids Konzept „Argos“ als Glamour-Neubau fertig war. Die Österreicher setzten – in Wien, in Tirol, in der Steiermark – schon früh auf die exklusive Architektur der irakischstämmigen Londonerin, die 2016 überraschend mit nur 65 Jahren starb. Dennoch gab es auch in Graz wieder unzählige Streitpunkte zu klären. 

Nun aber existiert endlich dieses spaceshipartige Boardinghouse mitten in der Fischer-von-Erlach-Altstadt. Seine 45 silbrigweiß schimmernden Glasfaser-Bubbles schauen wie Argusaugen aus dem Zuckerbäckerbarock in alle Richtungen. Sogar die Tapete (Foto) passt sich an. Für Business- oder Feriengäste, die die kleinen und großen Wohnungen jetzt – zumindest während der Lockdownzeit – auch tageweise buchen können, heißt das: Sie residieren quasi im Computerbarock. Alles ist digital, vom Check-In über den Zutritt ins Zimmer per QR-Code zu den Service-Apps per TV-Gerät bis hin zum Raumgefühl. Das Bett kann man problemlos als Zentrum seines Cockpits verstehen. Nur die barocke Turmspitze der Stadtpfarrkirche draußen liegt herrlich analog und glasklar vor der Nase. Während man selbst gemütlich bei seinem ersten Espresso im raumhohen Fenster sitzt.

Und sonst? Stehen etwa Lichtschwerter statt Lampen auf dem Nachttisch? Fliegen die Frühstücks-Toasts hier wie Ufos am aufgesperrten Mund vorbei? Nein. Die futuristischen Zaha-Hadid-Sofas für Moroso oder ihre Alessi-Käsereibe waren dann doch zu teuer für den Hotelgebrauch. Aber auch so rundet angemessen dynamisches Mobiliar das Architekturkonzept ab – man wohnt also perfekt organisch-schrägwinklig. Und genauso futuristisch, wie es von draußen den Anschein hat.                      Text: Alexander Hosch

Argos by Zaha Hadid Architects, Boardinghouse mit 21 serviced Apartments, 30 bis 80 Quadratmeter. Zur Zeit teilweise ab nur 75 € pro Nacht, www.argos-graz.at

Die silberne Kobra von Innsbruck

vignette_strassenrandperlen4Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es überraschende neue Architekturen. Und schöne ältere, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.  #3

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Objekt
Bergiselskischanze / Adresse Bergiselweg 3, A-6020 Innsbruck / Koordinaten  N 47°14.810’, O 011°23.987’ / Bauzeit  2001-2002 / Bau-Grund   Von wegen, Innsbruck liegt hinterm Architektur-Mond! / Aktuelle Nutzung  Skisprungwettbewerbe, Training, Besichtigungen (Kombikarte Schanze/Museum TirolPanorama); tagsüber Café-Restaurant in der Kanzel, abends privat zu buchen / Öffnungszeiten  www.bergisel.info / Schönster Augenblick  Immer die nächste Vierschanzentournee (meist 3./4. Januar)

Warum man immer dran vorbeifährt:  Weil man sich ja doch wieder nicht stilgemäß herunter zu fliegen traut! Jeder Aufstieg über 455 Stufen ist ein Sieg. Aber jeder Abgang ohne Ski an den Füßen eine kleine Niederlage.

bergiselschanze

bergiselschanzeWeshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss: Jetzt, wo bald erneut die Urlaubskarawane über den Brenner zieht, fällt sie allen hoch über der Autobahn wieder groß in den Blick: Die Bergiselschanze von Zaha Hadid. Zuerst musste die britisch-irakische bergisel_schanzeArchitektin von ungefähr 1975 bis 2000 lesen, man könne ihre Entwürfe gar nicht bauen. Und von 2001, kaum dass die Ersten standen, bis 2016 schrieben dann die Chauvis und Bau-Spießer: bääh, Spektakel, das ist ja eine Stararchitektin, und auf den Häusern fehlt der Giebel. Vor Kurzem ist die einzige berühmte Frau im Architekturzirkus mit nur 65 Jahren gestorben. Sie war das schillerndste Talent der Bauwelt, und zusammen mit David Bowie der größte Verlust für die Kunstwelt in diesem Jahr. – Gut also, dass Zaha Hadid zu Lebzeiten immer brav gebaut hat, wie sie wollte. Bei uns im Familienauto freuen sich jedenfalls mit jeder Alpenüberquerung alle als wär´s der Eiffelturm, wenn die silberne Kobra auftaucht, schemenhaft zuerst, dann schillernd, dann immer klarer. Früher sahen Skischanzen wie Kreuzungen aus Fernsehturm, Hochspannungsmast und Kohleförderanlage aus. In Innsbruck dagegen spielte die Mathematikerin und Dekonstruktivistin Hadid elegant mit dem Eindruck von Instabilität, mit extremen Winkeln und Überhängen. Das ist auch für jeden Besucher eine schwindelerregende Sache – wie eine Achterbahnfahrt. Schon der sportive Aufstieg zu Fuß oder alternativ die Fahrt per Schrägzug an den Schanzenrumpf und im Fahrstuhl hoch zum Turm-Café sind Erlebnisse. Die immer leicht verkippte Rundum-Aussicht von der Terrasse über Stadt, Berge und Inntal ist dann der eigentliche Clou. Wer ganz viel Glück hat, erlebt, wie unterhalb seiner Frühstücks-Tasse trainierende Meisterspringer aus der Luke gleiten. Und womöglich wird im Januar Michael Hayböcks neuer Schanzenrekord (138 Meter) gleich wieder geknackt.

Wie man hinkommt: Statt auf die A 13 Richtung Brenner abzubiegen, fährt man von der Inntalautobahn bei Innsbruck-Mitte raus. Von da über Klostergasse, alte Brennerstraße und Hohlweg auf den Bergiselweg. Parkplatz beim Kaiserjägermuseum. Von hier zum Stadion fünf Gehminuten.

(copyright Idee, Text und Bilder: Sabine Berthold & Alexander Hosch)

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