Krieg und Frieden

Auf dem Kolovrat-Kamm herrscht Stille. Nur das Gurren eines Birkhuhns wird vom Wind herübergetragen. Unter den blaugrauen Wolkenmassen breitet sich eine Landschaft aus, die sich auf der einen Seite über das slowenische Soča-Tal bis zum Triglav-Massiv und auf der anderen Flanke bis zur Adriamündung dieses Flusses zwischen Grado und Monfalcone erstreckt. Isonzo heißt die Soča auf italienischem Boden.

Isonzo steht auch als Synonym für zwölf Schlachten, in denen sich Italien und Österreich-Ungarn zwischen Mai 1915 und Oktober 1917 einen wahnsinnigen Stellungskrieg lieferten. Nun ist es friedlich am Kolovrat. So weltentrückt, dass sich die Seele weiten will. Wären da nicht die italienischen Gefechtsanlagen aus dem Ersten Weltkrieg, die sich Maulwurfgängen gleich in das Erdreich gefressen haben.

 

 

 

 

 

 

Die Isonzofront zog sich mitten durch diese Hochgebirgsregion und verwandelte sie in eine aufgerissene Landschaft. Ein Anrennen gegen die Gipfel und Pässe war das, gewalttätig wogte die Front im Soča-Gebiet hin- und her. Auf beiden Seiten wurde für minimale Geländegewinne ein maßloser Blutzoll entrichtet.

 

 

 

 

 

 

Seit einigen Jahren will ein 500 Kilometer langer „Walk of Peace“, der auch am Kolovrat verläuft, an den massenhaften Kriegstod dieser Männer erinnern. Von den Julischen Alpen über das Collio und den Karst bis zur Adriaküste lässt sich auf diesem Wanderweg entlang von Memorials, Kavernen, Festungen und Friedhöfen über die Geschichte des Kriegs und den Preis des Friedens nachdenken. Über all das Leid, die Opfer, die Unterdrückung, die unzähligen Toten. Eine fortdauernde Warnung eigentlich.

Unten im Tal erzählt das Museum von Kobarid die Geschichten weiter – von den fremden Mächten, die mit Flammenfäusten nach diesem mit Schönheit gesegneten Land griffen. Es mahnt zum Frieden und rückt die Sicht der Leidenden, die bezahlen mussten, in den Mittelpunkt. Krieg ist überall grausam. Wie lässt er sich angemessen beschreiben? In diesem Weltkriegs-Museum, untergebracht in einem wundervoll erhaltenen Barockbau, sprechen vor allem Objekte, Bilder und persönliche Zeilen der entsetzlichen Erinnerung. Grabsteine in der Eingangshalle, die Tür eines italienischen Militärgefängnisses, Tagebucheinträge, Fotografien der von Giftgas entstellten Gesichter.

 

 

 

 

 

 

Auch der damals noch völlig unbekannte Ernest Hemingway erlebte als Sanitätsfreiwilliger auf der Seite der Italiener die Isonzoschlachten. In Fossalta di Piave wurde er schwer verletzt, nicht einmal 19 Jahre war er alt.

Zehn Jahre benötigte der amerikanische Schriftsteller, um seine traumatischen Erfahrungen im Roman „A Farewell to Arms“ zu einer düsteren Liebes- und Antikriegsgeschichte zu verweben. Dieses Buch, Schlüsselwerk der Lost Generation, sollte eines seiner erfolgreichsten werden. Es ist eine schmerzhaft aktuelle Lektüre über das Scheitern des individuellen Glücks in einer Welt der Kälte und des Sterbens. Hemingway kam in dieser Sphäre der Glaube an das Gute abhanden.

Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie. Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen und die sehr Mutigen. Ohne Unterschied.

E. Hemingway, In einem anderen Land

2018 wurde der Roman neu ins Deutsche übertragen, den etwas abwegigen Titel „In einem anderen Land“ behielt man bei. Auf dem Bücherständer im Shop des Kobarid-Museums wird auch diese Rowohlt-Ausgabe angeboten. Man sollte nicht achtlos daran vorbeigehen. Hemingways Text erscheint moderner denn je und derart eindringlich wie es nur große Literatur sein kann.

Text und Fotos © Alexandra González

 

https://www.thewalkofpeace.com/

Seit Kurzem ist die Gemeinde Kobarid auch mit der Augmented Reality App „Walf of peace – Kobarid während des Ersten Weltkriegs“ zu erkunden.

https://www.kobariski-muzej.si/deu/      

 

Im Auftrag des Drachen

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Die heimlichen Alpenfilme:  #17

Da Clint Eastwood mit seiner sage und schreibe vierzigsten Regiearbeit, dem gemütlich erzählten Charakterstück Cry Macho, gerade die Kinobesucher bezirzt hat, ist dies der richtige Moment, an einen Rohdiamanten aus dem Jahr 1975 zu erinnern. Für sein Werk Im Auftrag des Drachen konzentriert sich Eastwood auf Action in ihrer reinsten Form: kein Double, keine Special Effects, keine Pappmaché-Felsen. Zugegeben, das Bergfilmklischee wird hier schon etwas bedient. Aber gekonnt. Und wenn es darum geht, Hollywoods einst attraktivsten Haudegen wiederzusehen (Eastwood  ist auch der „schlagfertige“ Antiheld unseres Heimlichen Alpenfilms #13), drücken wir ein Auge zu.

Doch was trieb dieses cinemagische Urgestein, das heute im Alter von 91 Jahren als Darsteller eine erschütternde Zerbrechlichkeit zulässt, seinerzeit ins Schweizer Hochgebirge?

Eastwood gibt den Frauen- und Kunstsammler Dr. Hemlock, der ein letztes Mal für eine Geheimorganisation einen mörderischen Auftrag ausführt. Sein Boss, ein lichtscheuer, mit Bluttransfusionen überlebender Albino, schickt ihn dafür in die Eiger-Nordwand.

Der Filmstar war in körperlicher Bestform, als er – dressed to kill im azurblauen Anorak – gegen den Schicksalsberg antrat. Als würde die steile Abbruchkante einen Schauspieler nicht genug fordern, musste es für den Amerikaner auch noch der Regiestuhl sein.

Gefährliche Seilschaft: Clint Eastwood mit seinem love interest Vonetta McGee

Weder Schneestürme noch der Tod eines Klettertrainers haben die Dreharbeiten gestoppt, damit Dr. Hemlock am Eiger eine letzte Rechnung begleichen kann. Dank Eastwoods Sportsgeist und kongenial im Hubschrauber agierender Kameraleute entstanden so höchst authentische Kletterszenen. Schon fürs Zusehen sollte man besser schwindelfrei sein.

https://www.alpine-kultur.com/agenten-sterben-einsam/

Alexandra González

Im Auftrag des Drachen (USA 1975) – immer wieder zu sehen in der 3sat-Mediathek.

Friede den Hütten

Overtourism ist im Berchtesgadener Land wahrlich kein Fremdwort, nicht einmal in der Pandemie. Und so strömen die Besucher, darunter zahlreiche indische und japanische Touristen, an diesem sonnigen Herbstwochenende wieder nach Berchtesgaden, an den Königssee und auf den Obersalzberg. We do Europe in two weeks. Für viele, sehr viele gehört offenbar auch historischer Grusel in Hitlers protzigem „Adlerhorst“, dem Kehlsteinhaus, dazu. Sogar eine Corona-Teststation ist dort oben in Betrieb.

Unmittelbar an den Nationalpark Berchtesgaden grenzt das Saalachtal im österreichischen Pinzgau und in seinem nördlichsten Winkel liegt die Gemeinde Unken nahe dem Grenzübergang Steinpass.

In der einzigen Bäckerei des Orts hat man seit Monaten kaum mehr Touristen gesehen. Inder? Japaner? Schon gar nicht. Jetzt fragen wir uns, weshalb man eine Nazigeisterstunde am Obersalzberg verschwenden muss, wenn man doch die Kultur dieser Landschaft im Unkner Regionalmuseum Kalchofengut viel besser erfasst? Also, auf geht’s ins Saalachtal statt auf den unheilvollen Hitler-Hügel!

Heute gibt es Wassermusik, sagt der Kustos Sepp Auer am Sonntagnachmittag und schmunzelt. Aber nicht von Händel. Am Haus wurde der Wasserlauf aus dem Brunnen über eine Rinne unterhalb der Dachtraufe umgeleitet und plätschert schließlich malerisch in einen Trog hinab.

Vor dieser Klangkulisse tönen die italienischen Partisanenlieder, die Jazzmusikerin Nane Frühstückl und Helmar Hill am Akkordeon gerade vortragen, noch spritziger. Ihr Auftritt dient quasi als Schlussakkord der „Bach“-Konzerte im Saalachtal –  ein Festival der besonderen Art, denn die Spielorte liegen „am Bach, am See, am Brunnen, am Wasserfall, im Kneippbad und wo es sonst noch sprudelt und fließt“.

Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Kalchofengut 1498. Vor 10 Jahren hat Sepp Auer das Museum übernommen und behutsam umgebaut. Jetzt gibt es etwa einen modernen Medienraum. Die Substanz dieses typischen Beispiels eines Mitterpinzgauer Einhofs ließ er freilich unberührt, so glänzt die uralte Rußschicht in der Rauchkuchl herrlich fettig wie eh und je. In der Schönkammer stapeln sich Stickereien, Klöppelspitze, handgewebtes Leinen. Und in der Sakralkammer ist ein Kreuzwegzyklus mit einer raren 15. Station zu bewundern – die bildliche Darstellung der Kreuzauffindung durch die heilige Helena.

Ein besonders zauberhaftes Museumsexponat wurde vom Kustos, der auf ein langes Berufsleben als Schreiner zurückblickt, in dreimonatiger Tüftelarbeit manuell gefertigt: das Diorama eines stattlichen Unkner Bauernhofs samt Nebengebäuden in ihrer Almlandschaft.

Verständnis für bäuerliches Rebellentum gegen die Obrigkeit suggeriert die aktuelle Wechselausstellung „Wilderei – Not und Leidenschaft“. Hier trifft man auf: Mena. Diese äußerst wehrhafte Wildschützin aus den 1930er Jahren versteckte eine erlegte Gams gerne unter den Latschenzapfen in ihrem Buckelkorb und ihre Büchse unter dem Kittel.

Nicht auszudenken, wäre sie derart ausgerüstet in das sogenannte Führersperrgebiet am Obersalzberg vorgedrungen und hätte mit einem beherzten Einsatz ihrer Flinte dem Spuk ein Ende bereitet. Dann würden die Touristen aus nah und fern heute nicht (nur) zu Hitlers ehemaligem Feriendomizil strömen, sondern nach Unken.

Fotos und Text © Alexandra González

Nur noch bis 3. Oktober 2021 ist das Regionalmuseum Kalchofengut geöffnet, dann wieder im nächsten Sommer – oder nach Vereinbarung.

http://www.kalchofengut.at

https://www.obersalzberg.de/home

Kopf ab, Höschen an

Für einen kurzen Moment zeigt sich der Himmel über Salzburg an diesem Starkregenwochenende in schönstem Blau-Weiß. Glück gehabt, denn bei einer durchgängig grauen Wolkenschicht funktioniert das Spektakel mit dem Opaion, diesem ovalen Himmelsloch in James Turrells „Sky Space“ gleich weniger gut; dann versinkt der Kunstraum auf dem Mönchsberg nämlich ebenfalls in Grautönen. Wohingegen er jeweils zur Dämmerung minutenlang im farbigen Helldunkel der Turrell’schen Lightshow changiert. Licht ist alles.

Auf ganz andere Ideen bringt uns der Besuch des Museums der Moderne gleich nebenan. Einen frechen Tanz mit der Geschichte wagt der nigerianisch-britische Künstler Yinka Shonibare CBE dort aktuell: Kopflose Figuren (Vive la Révolution!) in überkandidelten Galanterieposen tragen pompöse Rokokokostüme, ironischerweise aus buntem Dutch Wax Batikstoff geschneidert.

Diese großflächig gemusterten Textilien gelten vielen als Sinnbilder afrikanischer Kultur. Doch sind sie alles andere als genuin afrikanisch, denn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden sie von dem niederländischen Stoffproduzenten Vlisco aus Europa exportiert und haben obendrein ihren Ursprung in Indonesien. So poppig bunt unterläuft Shonibare Gewissheiten um Herkunft und Identität und visualisiert dabei die Verwicklung der europäischen Eliten in Kriege und Kolonialismus. „End of Empire“ heißt seine Ausstellung da nur konsequent.

Ziemlich umgekrempelt kommt in diesem Jahr auch der „Jedermann“ auf die Bühne. Die Premiere findet witterungsbedingt nicht auf dem Domplatz, sondern im Großen Festspielhaus statt. Sehr genderfluid präsentiert die Buhlschaft (mit Verena Altenberger spielt erstmals eine Salzburgerin diesen Part) einen raspelkurzen Pixie-Cut statt der obligatorischen Wallemähne. Und Lars Eidinger, immer gut für knackige Widersprüche, macht als Titel-Antiheld Dessous in Rosarot und Stöckelschuhe salonfähig. Nun sind wirklich alle aus dem Häuschen, die Karten haben für das Stück, das seit 101 Jahren zu Salzburg gehört wie „die Kunst, die Hysterie und ein wenig Schmäh“ (so heißt Andreas Ammers sehenswerte Festspiel-Doku). Andere, die kein Ticket ergatterten, maulen lustvoll, dass selbst diese zeitgemäße Koketterie mit den Geschlechtern das verstaubte Mysterienspiel nicht retten könne.

Am Ende tritt die Salzach glücklicherweise doch nicht über die Ufer, während andernorts ganze Landstriche in den Fluten versinken. Darf und will man natürlich nicht vergessen, selbst als die legendär leckere Haustorte an unserem Fensterplatz im Café Bazar serviert wird. Mit Blick auf den reißenden Fluss. Was für ein unvergleichliches Lokal! Thomas Bernhard hatte es in seiner Heimatstadt, die er leidenschaftlich für ihre „Geistlosigkeit“ verachtete, Asyl geboten. Wann immer ihm danach war. Und der Autor Anton Kuhn sagte einmal über das Café: „Die Salzburger Festspiele sind der Umweg, das Bazar ist der Zweck.“

Fotos und Text © Alexandra González

Yinka Shonibare, „End of Empire“, Museum der Moderne Salzburg Mönchsberg, bis 12. September 2021

https://www.museumdermoderne.at/de/ausstellungen-veranstaltungen/detail/yinka-shonibare-cbe-end-of-empire-2/

In das Tessin des Vincenzo Vicari

Für Vincenzo Vicari konnte das 20. Jahrhundert gar nicht rasant genug voranschreiten. Gegenüber jeder technischen, medialen und kommerziellen Neuheit war der Luganer Fotograf aufgeschlossen. So experimentierte Vicari (1911 – 2007) früh mit Luftfotografie und fühlte sich von der Leidenschaft für sein Metier vollends ergriffen, wenn er hoch oben eine Kamera gegen die Luft pressen musste, weil er gezwungen war, „sich beim Fotografieren mit dem Oberkörper aus dem Flugzeug zu lehnen“.

Mit demselben Elan hat er zwischen 1930 und 1990 den Wandel im Tessin dokumentiert. Entstanden ist ein komplexes Konglomerat aus Werbebildern für Industriebetriebe und Tourismusbroschüren, Landschaftsaufnahmen, Porträts des sozialen Lebens und des Brauchtums sowie Fotos zu Bauboom und höchster Ingenieurskunst in Form von Wasserwerken. Vicaris Bilderfundus visualisiert die Umgestaltung des Südschweizer Kantons von einem verschlafenen, bäuerlich geprägten Fleckchen Erde zu einem urbanen Motor, der sich trotz seiner Kraft allerdings nur schwerfällig bewegt.

Außerhalb des Tessins ist Vicari noch wenig bekannt, was sich mit der ersten großen monografischen Ausstellung im MASILugano gerade ändert. Dass sich diese Schau nur virtuell besichtigen lässt, macht die begleitende Publikation umso relevanter: Ein handlicher Katalog, der mit 190 meist unveröffentlichten Aufnahmen, überwiegend in Schwarz-Weiß, eine Exkursion durch die Bildwelt dieses vielseitigen Chronisten unternimmt.

Und der rote Faden in dieser Fülle an vollkommen ungekünstelten Momentaufnahmen, Fotoreportagen, Porträts und Postkartenmotiven? Es ist eine von großer Leichtigkeit getragene Sensibilität, die auch noch der größten Bausünde eine Prise Poesie einhaucht. Ewas von dieser Sprezzatura ist sofort zu erahnen, wenn wir das Buch aufklappen und uns der Meister selbst in einer Polyfoto-Serie aus dem Jahr 1940 gleich mehrfach keck entgegenlächelt.   Alexandra González

Vincenzo Vicari  | Fotograf | Das Tessin im Wandel der Zeit

MASILugano, 29.08.2020–18.04.2021

Bildband herausgegeben von Damiano Robbiani. Mit Beiträgen von Antonio Mariotti, Damiano Robbiani, Gianmarco Talamona und Nelly Valsangiacomo, bei Scheidegger & Spiess, 44 Euro.

www.masilugano.ch/de/882/vincenzo-vicari

www.scheidegger-spiess.ch

Die große Stille

 

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm #15

 

Gott steckt im Detail. Und Philip Gröning sieht genau hin: Fingerspitzen, die in Weihwasser tauchen. Im Sonnenstrahl tanzende Staubkörner. Dachschindeln, feucht glänzend vom schmelzenden Schnee. Sechs Monate verbrachte der deutsche Regisseur in der Grande Chartreuse, um diesen Filmessay über den strengsten Orden der christlichen Welt zu drehen. Bereits 1984 hatte er die schweigsamen Einsiedler in den Felsmassiven nahe Grenoble um eine Drehgenehmigung gebeten, 16 Jahre später kam die Erlaubnis. Die Auflagen: Kein künstliches Licht, keine zusätzliche Musik, keine Kommentare.

Der 2005 in den Kinos gestartete Film dokumentiert den Wechsel der Jahreszeiten und die asketischen Riten des Tages: Beten, stille Arbeit, ein Feld wird bestellt, eine Kutte genäht, die gemeinsame Messe in der fast vollständig dunklen Kirche, die gregorianischen Choräle als Träger der Innerlichkeit. Beides ist in der Kartause sehr gegenwärtig: das Einfache, Physische der Welt und die Abkehr davon. Um die Abgeschiedenheit zu steigern, umschließt eine hohe Klausurmauer die Zellen. Wie ein zweiter Schutzwall überragt das Chartreuse-Gebirge das Kloster. Der Begründer des Kartäuserordens Bruno von Köln schrieb: Wenn der schwache Geist durch die strenge Disziplin und die spirituelle Arbeit ermüdet ist, wird er durch die Schönheit der Landschaft aufgerichtet. Deshalb gehen die Patres einmal die Woche gemeinsam spazieren und blicken dankbar auf die Alpen wie auf ein großes Geschenk.

Foto und Text © Alexandra González

http://www.x-verleih.de/filme/die-grosse-stille/

 

Goethe taucht im Urmeer

 

Als ich im Goethehaus Weimar die Aufsicht bitte, eine der Schubladen in den Sammlungsschränken zu öffnen, muss ich sofort an die Alpen denken und hoffe, hier ein steinernes Souvenir zu finden. Doch sie schüttelt verlegen den Kopf. Das habe so lange niemand mehr getan, sie können mir nicht sagen, was in den Schubladen sei. Wir erfreuen uns also nur an den in den verglasten Aufsätzen sichtbaren Schaustücken aus Goethes geowissenschaftlicher Schatzkammer, aber eines wird auf unserem Rundgang durch das überraschend behagliche Domizil am Frauenplan immer offensichtlicher: Dieser Mann war als Universalgelehrter ebenso bedeutsam wie Leonardo. Behauptet zumindest meine Freundin S., mit der ich durch die von der milden Spätsommersonne zum Leben erweckten Räume streife. Kennen den Weimarer Geheimrat und Dichterfürsten weltweit ebenso viele Menschen wie den Maler der „Mona Lisa“? Wer weiß das schon? Mich interessiert nun aber doch sehr, warum sich der berühmte Italienreisende in die Alpen verliebt hatte: Einfach weil er sich als leidenschaftlicher Geologe und Mineraloge nicht sattsehen konnte an den „grauen Kalckfelsen“ und „höchsten weisen Gipfeln auf dem schönen Himmelsblau“.

Im Herbst 1786 reist er aus dem Norden Richtung Rom und macht sich zwischen München und Bozen unermüdlich Gedanken über den Aufbau der Alpen. (Auf dem sogenannten Goetheweg können ausdauernde Fans auf seinen Spuren von München nach Verona fernwandern.) Als Neptunist ist er davon überzeugt, dass alle Gesteine durch Auskristallisation aus dem Urmeer entstanden sind. Vulkanischen Ursprungs könne der Bozener Quarzporphyr nicht sein. Ja doch, auch ein Genie darf sich irren.

Ab den 1780er Jahren bis zu seinem Tod am 22. März 1832 auf dem Bett seines Weimarer Schlafzimmers vertieft sich Goethe in die Welt der Gesteine und Mineralien, baut thematische Sammlungen auf. Tausende Fundstücke trägt er selbst zusammen und verwahrt sie im blassgrün getünchten privaten Arbeitsbereich (Grün, schreibt Goethe in seiner Farbenlehre, verschaffe dem Auge „reale Befriedigung“) sowie im roten „Steinpavillon“ am Rand seines Bauerngartens.

Derart nachhaltig glüht die Mineralienpassion des wissensdurstigen „Faust“-Schöpfers, dass 1806 der Goethit nach ihm benannt wurde: ein rostbraun schimmerndes und manchmal regenbogenfarben irisierendes Eisenerz, dessen langgestreckte Kristalle wie Nadeln aus dem Gestein wachsen. Goethit ist häufig mit anderen Mineralien vergesellschaftet – so stabil und disziplinübergreifend  stelle ich mir die Denkfreude des Universalgelehrten vor. Womöglich hat meine Freundin einfach recht.

Text und Fotos © Alexandra González

 

Auf den Gipfeln der Moderne

Bis zu acht Personen bietet Charlotte Perriands „Tonneau“-Hütte Unterschlupf. Entwurf von 1938, realisiert 2012

Spätentschlossene haben nur noch wenige Tage Zeit, um im TGV nach Paris zu sausen und sich in der Ausstellung „Charlotte Perriand: Inventing a New World“ (Fondation Louis Vuitton; bis 24. Februar 2020) von einer Pionierin der modernen Alltagswelt den Kopf verdrehen zu lassen.

L‘ Art de vivre?  Hat diese Stilikone komplett umdefiniert. Erdenschweres wird bei ihr federleicht, Kantiges geschmeidig, Kühles wohlig warm, Eckiges passt ins Runde. Und im Mittelpunkt steht immer der Mensch.

Mit ihren Savoyer Wurzeln trug die weltläufige Architektin und Designerin die Alpen im Herzen. Ihre Passion für das Skifahren und Bergsteigen spiegelt sich in etlichen in der Retrospektive aufgefädelten Projekten wieder und trieb sie an den Wochenenden regelmäßig aus dem Pariser Atelier: „Wir brachen freitagabends zum Jura oder in die Alpen auf und kehrten montagmorgens in das Atelier zurück, nicht immer in guter Verfassung, aber glücklich.“

Modell des Ski-Resorts Les Arcs. Fotoprojektion: Die zur offenen Landschaft hin ausgerichtete Apartmentanlage
Schirm oder Karussell? Dachkonstruktion der „Tonneau“-Schutzhütte

Perriand plante für eine Dutzend Menschen ebenso virtuos wie für Abertausende. So präsentiert diese Schau ihre in der Konstruktion an ein Karussell erinnernde „Tonneau“-Schutzhütte, die 1938 entworfen und 2012 von Cassina realisiert wurde – ebenso wie die französische Skistation Les Arcs (1967-1989). Den Massentourismus domestizierte Perriand, indem sie die lichtdurchfluteten Apartmenthäuser bogenförmig in die Landschaft integrierte und von jeder der zahlreichen Wohneinheiten einen unverstellten Blick in die Berge ermöglichte.

Übrigens, eine Handvoll Personen würde ausreichen, um die Refuges im Nu aufzubauen. Selbstverständlich packte Charlotte Perriand immer mit an (Foto unten).

Text und Fotos © Alexandra González

www.fondationlouisvuitton.fr/en/exhibitions/exhibition/charlotte-perriand.html

 

Agenten sterben einsam

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: 

Heimlicher Alpenfilm #13

So impossible scheint die Mission von Richard Burton und Clint Eastwood, dass sie Tom Cruises Aufträge wie ein Kinderspiel aussehen lassen: Als Major Smith und Lieutenant Schaffer müssen sie unbemerkt in das Hauptquartier des deutschen Geheimdienstes eindringen, um einen US-General im Besitz hochbrisanter Informationen zu befreien. Ein Himmelfahrtskommando.

Eastwood agiert in Brian G. Huttons Kriegsfilm-Klassiker von 1968 – Originaltitel „Where Eagles Dare“ – nach dem üblichen Erfolgsrezept: Schlechte-Laune-Gesicht plus umstandslose Gewaltanwendung. Als Kulisse für das Nazi-Wespennest diente Burg Hohenwerfen, seit dem 11. Jahrhundert ein strategisches Bollwerk auf einem markanten Felskegel im Salzachtal. In dem vertrackten Kaninchenbau bewegt sich Burton, auch zuständig für die ruhigen Shakespeare-Momente in dem Actionfilm, mit der Präzision einer Schweizer Uhr.

Immer wieder lassen Doppelagenten und okkulte Ziele die Handlung in anderem Licht erscheinen. Trotz dieser Volten ist der Spionagethriller reinster Situationismus: Eine verhängnisvolle Lage reiht sich an die nächste wie Perlen auf einer Zündschnur. Fahrzeuge, Brücken, Bäume und Personen fliegen konfettigleich in die Luft. Dieses pyrotechnische Ballett kommt in der tief verschneiten Landschaft der Salzburger Schieferalpen, wo die Filmcrew ab Januar 1968 drehte, besonders gut zur Geltung.

Alexandra González

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Weihnachtsfantasien in 3-D

Wie ein gut entwickelter Säugling, der gerade lernt, sich zu drehen und die Welt zu erkunden, greift das Jesuskind mit dicken Fingerlein nach dem schlichten Holzkreuz. Vor Anstrengung glühen seine Pausbäckchen rosig. Meine Freundin R. hatte die entzückende Idee, sich und uns an ihrem Geburtstag mit einer Führung durch die Krippensammlung des Bayerischen Nationalmuseums zu beglücken. Also tauchen wir tief in den kulturellen Kontext ein und können es kaum fassen: Christkindl dieser Art wurden Novizinnen beim Eintritt in das Kloster mitgegeben,  als „Seelentrösterle“, „Himmelsbräutigam“, dessen Nacktheit meist keusch unter einem reich bestickten Seidengewand verschwand, oder gar als Babyersatz.

Einige Vitrinen weiter vollführt ein Schwarm von Epheben, nichts als ein Musselintuch um den kaum erwachsenen Leib gewickelt, ein expressives Ballett.  Ein verfrühter Beitrag zu Gender Studies, dies? Reichlich individuelle Lesarten der Weihnachtsgeschichte bietet die Schau im Bayerischen Nationalmuseum an der Münchener Prinzregentenstraße, die noch bis Ende Januar zu besichtigen ist. Vielleicht ist das Schönste an diesem Reigen, dass die Schöpfer der himmlischen Szenografien die Leerstellen im Narrativ mit ihrer ungezügelten Fantasie füllten.

Das Konzept dieser enorm bedeutenden Sammlung von Krippen aus dem Alpenraum und Süditalien der Zeit um 1700 bis zur Moderne geht zurück auf ihren Stifter Max Schmederer (1854 – 1917), Münchner Bankier mit Mission. Er hatte eine sehr präzise Vorstellung von der Aufstellungsart, die stilbildend wurde. Bevor er seinen Schatz der Institution schenkte, machte er jedes Jahr zur Adventszeit den Pulk kunstvoll geschnitzter oder geformter und ausstaffierter Figurengruppen sowie die vielen stimmungsvollen Schaubilder in seinem Privathaus öffentlich zugänglich.

Während die neapolitanischen Krippen mit farbig gefassten Figuren und einer dramatischen Lichtführung in den Dioramen oft wie ins Dreidimensionale gesteigerte Gemälde Caravaggios anmuten, bezeugen die alpenländisch inspirierten Szenen Sinn für hintergründigen Humor. Im vogelwilden Wimmelbild, für das Wenzel Fieger um 1890  über 1000 auf Karton aquarellierte und ausgeschnittene Protagonisten in einem vier Meter langen Moosgebirge verankerte, versuchen wir, eine sich im Strahl erleichternde Kuh auszumachen. Da ist sie, und wie frech sie über die Schulter blickt!

In einer Krippe aus Nordtirol, die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand, verfolgt ein Almbauer im Lodenmantel mit hölzerner Buckelkraxe aufmerksam die „Verkündigung an die Hirten“. Und jetzt schaut’s her, der „Krippenjackl“ aus Laufen an der Salzach besitzt ein zweites Gesicht: Mal freundlich lächelnd, mal zur Fratze verzerrt. So oder so lässt sich der Januskopf dieser Trachtenpuppe nach Belieben austauschen. Der reinste Horror, da wird es nicht nur den mitgebrachten Kindern angst.

Schließlich eine Epiphanie für die Architekturaffinen unter uns. Wer hätte gedacht, dass ein kleiner Gerbermeister vor 200 Jahren in Bozen die Postmoderne vorwegnahm? Karl Sigmund Moser schuf aus Palästen im Stil Palladios, osmanischen Kuppelbauten, barocken Brunnen, Arkaden, Treppenaufgängen und neogotischen Spitzbögen die ideale Stadt Jerusalem. Leider ist von seiner Fantasiearchitektur heute lediglich ein Teil erhalten. Ursprünglich tummelten sich in Mosers Weihnachtswunderland zudem Gemsen auf Bergen und Tiroler Almhütten standen zwischen Libanon-Zedern. Hach, so herrlich eklektisch geht es zu, wenn man bei der Wirkung der Krippe nur ein Ziel verfolgt – die ganz große Oper, ein Staunen und Raunen über Jahrhunderte hinweg.

Text und Fotos © Alexandra González

Die Krippensammlung kann ab November bis Ende Januar während der regulären Öffnungszeiten besichtigt werden. Von Februar bis Oktober nur nach Voranmeldung. www.bayerisches-nationalmuseum.de