Auf einer kugelrunden Spezialität aus Marzipan, Nougat, Schokolade und Pistazien sitzt in jeder zweiten Auslage der österreichischen Alpenstadt der zweifellos berühmteste Kopf Salzburgs: Jener von Wolfgang Amadeus Mozart. Wer jedoch ebenso stilgerecht, aber kalorienärmer seinen alpinen Kultur- und Festivalsommer vorbereiten möchte, dem legen wir ans Herz, sich auf die paar hundert Meter vom Hauptbahnhof in die Altstadt zu begeben und dabei – alles diesseits der Salzachbrücken – noch ein paar andere alte und neue Salzburger Häupter zu treffen.
Im klassizistischen Stammsitz der Galerie von Thaddaeus Ropac etwa, der direkt am Mirabellplatz in der rechtsufrigen Altstadt gelegenen Villa Kast residiert, verblüfft der große, mit gelber Ölfarbe bemalte Bronzekopf einer Trümmerfrau aus der Serie „Dresdner Frauen“ (1990/2023). Georg Baselitz ist ihr Schöpfer. Daneben beherrscht der meist am Ammersee arbeitende deutsche Malergigant die auch die anderen ansonsten leeren Räume mit großen blauen Gemälden, die überwiegend Adler abbilden. Bis ihn dann Ende Juli ein anderer deutscher Großkünstler, Anselm Kiefer, ablösen wird. Man muss sich einfach nur trauen, den opulenten Palazzo zu betreten.
Ein anderes – im Gegensatz zur Baselitz-Skulptur – sogar ständiges Salzburger Kopfkino liefert nebenan der älteste europäische „Zwergerlgarten“ im westlichen Teil des barocken Mirabellgartens. Neben einem bildschönen Einhorn, dem Heckentheater, dem Rosengarten und 100.000 anderen (übers Jahr verteilt blühenden) Blumen ist er mit Abstand die schönste Zierde dort, Besuchende können sie im Sommer täglich von 6 Uhr bis Einbruch der Dunkelheit kostenlos durchqueren. Die 28 Zwergskulpturen aus Untersberger Marmor wurden 1695 von Erzbischof Johann Ernst Graf von Thun und Hohenstein bestellt und auf der Lodronschen Wasserbastei postiert. 1811 wurden jedoch alle Zwerge versteigert. Im Lauf der vergangenen 113 Jahre konnten 19 davon – mühsam und ganz allmählich – wieder zurückgekauft werden. Wie etwa der „Zwerg mit Kastagnetten“ ganz oben. Oder der „Zwerg mit Ball“ auf unserem größten Foto. Von noch abgängigen Zwergen künden leere Podeste. Noch immer fehlen zum Beispiel die einst von einem Künstlerkollektiv geschaffenen „Monatszwerge“ für Februar und November. Aber der „Zwerg mit dem Strohtaschenhut“ (Abbildung links unten) ist gottlob wieder da – als einer von ursprünglich fünf Duellanten wartet er im Halbschatten. So kann der Salzburger Hochsommer ruhig kommen.
Es gibt in der Architektur seit langen einen unentschiedenen Streit über die richtige Bauform in Höhenlagen. Die Mehrzahl der Funktionäre und der Baumeister forcieren die immer weitere Ausdehnung der alpinen Siedlungen in die Breite. Das führt jedoch zu noch mehr einzelnen Häusern in der Landschaft. Die andere Fraktion – in der Minderzahl – setzt sich seit mindestens Mitte des 20. Jahrhunderts für die nachhaltige und konsequente Etablierung einer Moderne in Form von Hochhäusern ein. Auch oder gerade in den Hochalpen. Das Ziel: weniger Zersiedelung der kostbaren Natur, weniger Bodenversiegelung. Und in der Konsequenz dann auch weniger Straßenbau. Vorgemacht haben das in Sestriere bei Turin etwa schon um 1940 die Architekten von zwei 16-stöckigen Rundtürmen (einer enthält heute noch das Grand Hotel Ducchi d´Aosta). Beide Türme wurden damals im Auftrag der ehemaligen Besitzer von Fiat, der Familie Agnelli, errichtet. Ebenfalls auf ein alpines Hochhaus setzte – ein gelungenes jüngeres Beispiel – vor rund 15 Jahren am Katschberg der Mailänder Architekt Matteo Thun, als er inmitten des österreichischen Tauerngebirges ein anderes Rundhochhaus für Serviced Apartments baute. Pioniere der Moderne.
Während in den Ostalpen Ideen von Hochsiedlungen aber immer wieder am Geld oder an der zu traditionell denkenden Bevölkerung scheiterten (so etwa Alfons Waldes Plan für eine Siedlung Hochkitzbühel), entwickelte sich Frankreichs hochalpine Landschaft nach dem Zweiten Weltkrieg progressiver: Die Staatsregierung befürwortete und förderte schon zu Zeiten Charles de Gaulles zusammen mit den Touristikern die Idee eines organisierten Frühjahrsurlaubs der ganzen arbeitenden Bevölkerung in den Bergen sowie eines weitgehend problemlosen „Ski in, Ski out“, ohne tägliches Verkehrsaufkommen. Unterstützt vom französischen Staat bauten in-und ausländische Investoren für Einheimische und Urlauber statt unten im Tal oft lieber hoch oben auf dem Berg. Sie entschieden sich zudem häufig für großformatige Neubaukomplexe. Diese nehmen dann zwar viel Platz ein, andererseits überlassen sie aber den Bewohnern und Besuchern den ganzen riesigen Rest der Landschaft als freie Natur. Mit unverbautem Blick können die Menschen dann von drinnen das wichtigste Ziel der Reise genießen: die Berge.
Das war auch das Prinzip der elf Skidörfer rund um La Plagne in der Haute Tarentaise. Und ist es bis heute geblieben. Seit den 1960er entwickelte der Architekt Michel Bezançon dort vom Reißbrett aus neue kleine Dörfer als moderne Skistationen, die jeweils aus großen einzelnen, überirdisch und unterirdisch zusammenhängenden Gebäudestrukturen bestehen. Obwohl es gute Gründe für und auch gegen diese Bauform gibt (etwa die unübersichtlichen Tiefgeschosse, in denen kaum ein Weg oder eine Treppe von der anderen zu unterscheiden ist), befürwortet der Autor dieser Zeilen doch diese Art des alpinen Bauens als die bei weitem angemessenere Variante im Vergleich zum raumfressenden Neubau von Einfamilienhäusern in den Alpen. Denn dafür gibt es in Zeiten allmählich versiegender Schneemassen keinen einzigen ernsthaften Anlass mehr. Die Ausweisung neuer hochalpiner Baugrundstücke dient lediglich noch dem persönlichen Vorteil Einzelner, die aus unterschiedlichen Gründen in der Lage sind, ihre Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. In La Plagne aber kann im Prinzip einfach durch Ausbau – und komplett ohne Neubau – verändert werden.
Es wird in La Plagne und seinen Satellitendörfern – wie Plagne Villages oder Plagne Soleil – so wenig wie anderswo eine einhellige Ansicht über die Schönheit der großen Baustrukturen geben, die oftmals die konstruktivistischen und sozialrevolutionären Ideen ihrer Bauzeit vor 50 Jahren zur Schau tragen. Heute lassen sich jedoch besonders in den Savoyer Alpen einige wesentliche Vorzüge dieser vorausschauenden Bauweise erkennen: Erstens, die Menschen verbringen hier seit Jahrzehnten hoch oben ihren Skiurlaub. 135 Lifte erschließen die 225 Pistenkilometer des – zusätzlich noch mit Les Arcs verbundenen – absolut schneesicheren Skigebiets Paradiski, das bis auf 3.400 Meter reicht. Die Gäste wohnen also nicht wie meist in den Ostalpen unten im Tal, wo sie zur Hochfahrt oft erst einmal ihre Verbrennerautos anwerfen und dabei selbst an Weihnachten häufig die künstlich erzeugten weißen Pistenschneebänder zwischen frustrierend viel Grau und Grün erleben müssen. Zweitens, die unterirdischen Parkplätze und Zugangswege ermöglichen komplett autofreie Skistationen wie Belle Plagne, wo auf 2050 Höhenmetern die Gäste zwischen den Herbergen, Appartements, Restaurants und Geschäften bis fast zu ihrem Hotelbett wedeln können, weil ihnen bis dorthin weder Autos noch Straßen den Weg versperren.
Der nachhaltige Wert einzelner Großgebäude in den Alpen zeigt sich unter anderem darin, dass diese Einheiten nach teilweise mehr als 50 Jahren Betrieb noch immer jedes Jahr viele tausende Wintertouristen aufnehmen. Vornehmlich Familien, aber auch Freundesgruppen. Während in Deutschland die Mittelklasse damit hadert, sich das Skifahren künftig vielleicht gar nicht mehr leisten zu können. Tatsächlich bezeichnet sich La Plagne in seiner aktuellen Werbung als die Skistation mit den meisten Besuchern in der ganzen Welt: 575.000 Gäste besuchen jedes Jahr die insgesamt 11 Skidörfer, aus denen La Plagne besteht. 56.000 Betten stehen dafür zur Verfügung. Selbst in der Tarentaise, die von sportlichen, kulinarischen und architektonischen Superlativen (Tignes, Courchevel, Meribel, Les Arcs, Val d´Isère…) verwöhnt wird, ist das einsame Spitze. Die größte der Baustrukturen von La Plagne – es handelt sich dabei um das architektonisch ikonische Plagne Bellecôte mit diversen Sichtbetontürmen – trägt seit vielen Jahren den Spitznamen Barrage. Auf französisch bedeutet das so viel wie Staumauer. Das ist natürlich Ausdruck einer gewissen Zweideutigkeit. Fest steht indes, dass „die Staumauer“ immer noch jedes Jahr von tausenden ganz normalen Franzosen, Belgiern, Engländern und Skandinaviern bewohnt wird (allerdings nicht mehr so häufig wie früher von Deutschen). Das zweite bekannte große Gebäude des Skigebiets von La Plagne reckt wie ein Kreuzfahrtschiff seine Decks gen Himmel. Es ist dies eine Residenz auf 2100 Metern, in der Appartements, Hotelbetten, Geschäfte, Skiverleihfirmen und andere Läden zusammen untergebracht sind. Dieses – unzweifelhaft sehr elegante – Gebäude von 1969 genießt längst Denkmalschutz. Wenn es stimmt, dass die Menschen Gebäude schätzen, die an ein Tier, eine Pflanze oder an ein Ding erinnern, dann ist vielleicht der Grund dafür gefunden, warum die Menschen das Paquebot des neiges (etwa „Schneekreuzfahrtschiff“ ) in Plagne Aime 2000 sogar noch lieber mögen als ihre Staumauer. Dazu kommt der Vorteil, dass man auf dem benachbarten Gletscher Dôme de Bellecôte (3417 m) noch länger nicht ernsthaft mit Schneeknappheit rechnen muss.
Die Zukunft von La Plagne – und vor allem die der durch Höhenlage verwöhnten Stationen Belle Plagne und Aime 20000 – scheint durch den bis in den Mai zuverlässig auf natürliche Weise fallenden Schnee noch ziemlich lange gesichert zu sein. Als zweite wichtige Säule des künftigen Wintertourismus kommt ein sehr rationaler Umgang mit der Wirklichkeit des Jahres 2024 ins Spiel. Denn angemessenerweise bemüht sich La Plagne schon jetzt um die Wintersportgäste von morgen. Seit 2021 bereitet sich La Plagne intensiv auf das anspruchsvolle, von den Mountain Rivers vergebene Umweltzertifikat Flocon vert vor, das für grüne Verdienste im Skibetrieb verliehen wird. Es gibt in Deutschland, Österreich oder der Schweiz nichts Vergleichbares. Man hat den Kampf aufgenommen und ist – anders als viele Nachbarskiorte – mit einem ehrgeizigen Umweltschutzprogramm in den Wettbewerb um das grüne Siegel eingestiegen. Die Verantwortlichen haben für die Saison 2023/24 nun schon zum zweiten Mal eine 50-seitige Broschüre produziert, in der sie ihre Mitarbeiter auf Nachhaltigkeit einschwören, ihre zahlreichen Schritte in Richtung Biodiversität erklären, intensiv Gäste und Gastgeber sensibilisieren sowie ihre Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Ausstoßes und zur Verbesserung der Qualität des lokalen Lebens skizzieren. Kreislaufwirtschaft, Reduktion von Strom und Treibstoff, Vermeidung von Mikrokunststoff im Trinkwasser sind nur einige der Ziele, die alle Lebensbereiche betreffen. Das ist umso bemerkenswerter, als viele andere Skiorte in den Alpen noch immer glauben, das nicht tun zu müssen und es an Demut vor der zu schützenden Natur mangelt.
Dazu kommt der ganz normale Skispaß. Ganz oben in Belle Plagne lebt man, zum Beispiel im Hotel Eden des Cimes, vergnügt in einer komplett weißen Schneelandschaft und auf Augenhöhe mit den Skigipfeln von Grande Rochette und Roche de Mio. In mondänen Pistenlokalen wie dem Plan Bois genießt man mittags zum Steak im Freien einen Extrablick auf Europas höchsten Berg, den Mont Blanc. Und nur etwas tiefer, nahe Plagne 1800, wo vor mehr als 30 Jahren die olympische Bobbahn der Winterspiele von Albertville angelegt wurde, darf jede:r den hochdramatischen Parcours mit den 19 Kurven testen.
Anders als die italienischen Veranstaltungsorte vergangener Olympiaden (und auch als einige französische wie Courchevel) haben die Verantwortlichen in La Plagne ihre alte olympische Stätte nicht verkommen lassen. Sie nutzen sie vielmehr weiter für Wettbewerbe. Und sie geben sie – mit extra entwickelten und gesicherten Spezialschlitten – zum Gaudium der Allgemeinheit die ganze restliche Saison für jenen Teil der Bevölkerung frei, der schon lange mal Lust hatte, es den Tollkühnen in ihren beinahe fliegenden Schalen gleichzutun. Dort darf jedefrau und jedermann – eben alle, die sich trauen – eine Fahrt über die originale olympische Rennstrecke mit einem erfahrenen Bobpiloten oder einem automatisch gesteuerten Gefährt bei Geschwindigkeiten zwischen 80 und 120 km/h wagen. Olympia ist hier im Alltag der Bewohner von La Plagne angekommen. Sie sind stolz auf diese Vergangenheit. Auch deshalb hat sich Frankreich – mit Nizza für das Olympische Dorf und mit La Plagne (samt der alten als der neuen Bobbahn) – gerade wieder für die Winterolympiade 2030 beworben. Der Erfolg wäre ganz allgemein ein Segen für die Nachhaltigkeit der Olympischen Spiele.
Text und Fotos: Alexander Hosch
Der Skipass für La Plagne im Gebiet Paradiski kostet in der Saison 2023/24 pro Tag für Erwachsene 65 €, für Kinder 52 €. Die Skisaison dauert dort noch bis zum 28. April. Das kürzlich renovierte Hotel Eden des Cimes **** in Belle Plagne bietet im April 2024 zwei Nächte mit Halbpension für zwei Personen im Doppelzimmer für 580 €. Appartements in der Residenz Paquebot des Neiges in Plagne Aime 2100 waren Anfang April auf verschiedenen Plattformen ab 98 € pro Tag zu buchen.
Luxus im Skisport, das hieß mal: Teure Sportkleidung, schicke Hotels mit gigantischen Wellnesslandschaften – und vielleicht noch ein superber Helikopterflug in unberührte Tiefschneereviere. Vorbei.
Längst ist die Konkurrenz zwischen den Skidestinationen der Zukunft eine andere. Den feinen Unterschied bei schwindenden Schneemassen und breitflächig dokumentiertem CO²-Ausstoß macht heute die grüne Note. Aber ohne billiges Greenwashing bitte! Weiße Weihnachten können künftig eh nur noch die wenigsten Orte ihren Gästen mit Garantie verkaufen. Wer schafft es also, in kürzester Zeit nachhaltige Faktoren in sein Skigebiet zu integrieren? Wie wollen alpine Dörfer künftig die anspruchsvolle Klientel aus Europas Großstädten dazu animieren, ungeheure Summen für ein Skiurlaubsvergnügen auszugeben, das mehr und mehr umweltschädlichen Kunstschnee benötigt, das immer noch teurer wird und gleichzeitig immer weniger als Anlass für begeisterte Gespräche unter Freuden taugt?
Der Ort Bad Hofgastein hat diesen Wettbewerb jetzt beispielsweise mit 15 großen sogenannten Solarbäumen voller PV-Module aufgenommen, die seit Sommer 2023 neben der Talstation der Schlossalmbahn herangewachsen sind. Sie sollen dafür sorgen, dass der Stromverbrauch dieser Gondelverbindung schon bald komplett aus erneuerbaren Quellen stammt. Zudem können hier E-Fahrzeuge aufgetankt werden, während man über die Pisten carvt – sei es das eigene Auto oder ein Leihwagen aus der E-Car-Kollektion der Gasteiner Bergbahnen. Solche News werden im Wettstreit zwischen den alpinen Skiorten vielleicht schon bald den Ausschlag geben.
Neuen Luxus herkömmlicher Machart gibt es auch noch, nebenan in der Kurlandschaft von Bad Gastein. In einem Ort, wo täglich reichlich heißes Wasser als erneuerbare Energie direkt aus dem Felsen kommt, macht das immerhin auch künftig Sinn. Deshalb hat zu Beginn des Jahres 2024 das „Badeschloss“ aufgemacht – ein 13 Stockwerke hoher Hotelturm, der seit kurzem als „künstlicher Felsen“ aus vorgefertigten Betonteilen dem Häusermeer entragt. Er vermittelt zwischen der alten Zuckerbächerpracht der Barockfassaden und dem hier im Salzburger Land durchaus auch vorhandenen Architekturkonstruktivismus der 1970er Jahre. Gelungen und mutig. Aber nix für Spießeridyllen.
Den vollen Charme kann das neue Hotel Badeschloss jedoch erst entfalten, wenn auch der sogenannte vertical link Wirklichkeit ist. So heißt ein für 2025 geplantes, aber wohl erst später zu realisierendes Projekt für ein kilometerlanges unterirdisches Förderband, eventuell mit Rolltreppen, das den Ortskern beim berühmten Wasserfall mit dem sehr viel höher gelegenen Bahnhof und der Stubnerkogelseilbahn verbinden wird. Eine grüne und soziale Idee, für die aber noch viel Bautätigkeit nötig ist. Danach kann jede:r die hier extrem steilen Strecken von den Hotels zu den Zügen und Liften samt Kindern und Skiausrüstung bequem als Fußgänger bewältigen. Statt, wie bisher, per Auto.
Natürlich gibt es auch im Skisport jede Menge Gemüter, die auf Neuerungen nicht die geringste Lust haben und lieber Teil des Problems bleiben, als zur Lösung beizutragen. So wie heute wird der alpine Skisport in Höhenlagen unter 2000 Metern aber schon aus physikalischen Gründen spätestens 2035 nicht mehr funktionieren. Garantiert nicht. Deshalb versuchen jetzt viele Alpendörfer alles, um ihren Teil des Kuchens zu behalten. Flaine in den französischen Alpen wollte bis vor kurzem einen sogenannten Tal-Lift bauen, um alle Verbrennerautos von seinen Hochstraßen zu verbannen. Leider gescheitert: zu teuer. Österreich intensiviert gerade bundesweit den Schienenverkehr, um ab 2026 Alpenorte mit der doppelten Frequenz an Zugverbindungen über Salzburg oder Klagenfurt zu erreichen. Vielversprechend.
Nicht alle Dörfer können gewinnen. Die Mehrzahl der Skikunden in den Ostalpen werden neben Einheimischen – wohl die Deutschen und die Skandinavier bleiben. Und Bürger dieser Länder waren in den letzten Jahrzehnten in puncto Nachhaltigkeit die forderndsten Europäer. (Von Malmö nach Salzburg wurde vor zwei Jahren sogar extra eine neue Nachtzuglinie für Wintersportler kreiert.) Viele von ihnen werden – wenn sie die Wahl haben – auch in künftigen Alpenurlauben regionale Küche und öffentliche Anreise wählen. Dazu weiße Skihänge, die auf natürliche Weise beschneit werden – und aus genau diesem Grund auch ziemlich grün sind.
Kennen Sie die Zeno 3? Das ist eine nach dem italienischen Abfahrts-Olympiasieger von Oslo 1952 benannte, über weite Strecken blaue Piste in Abetone, die auf dem Grat des Gomito beginnt, um dann im unteren Teil in einen toskanischen Buchenwald einzubiegen. Keine 90 Kilometer vor Florenz! Solchermaßen geht es zu in diesem Buch. Und auch in der Ukraine, in Georgien und Rumänien, in Andorra, in Lappland und auf Zypern, auf Island oder Sizilien erwartet man vieles – aber eigentlich keine Skiabfahrten. Wirklich nicht? Doch, doch! 111 Skipisten in Europa, die man gefahren sein muss heißt jetzt ein Werk aus dem Emons Verlag, das es besser weiß. Die „111er Reihe“ aus der Kölner Bücherschmiede versammelt immer wieder ein paar echt originelle und zeitgemäße Reise-Ideen, um Leser zum Träumen zu bringen. Und führt sie – wie in diesem Fall – zu kuriosen, krassen oder denkwürdigen Abfahrten überall in Europa. Einmal sogar auf einen aktiven Vulkan! Die – natürlich nicht versicherbare – Sechsergoldelbahn am 3.357 Meter hohen Ätna wurde 2021 erst neu errichtet (nachdem der Vorgängerlift mal wieder von der Naturgewalt zerstört worden war).
Ein schottisch-schwedisch-deutsches Skifahrer-Dream-Team war hier, jeder auf eigene Faust, unterwegs. Die drei Autoren Christoph Schrahe, Jimmy Petterson und Patrick Thorne arbeiten seit vielen Jahren – und jeweils mit leicht differierenden Rekordambitionen – daran, hunderte Skiparadiese auf allen Kontinenten unter ihre Bretter zu kriegen.
Natürlicherweise interessieren sich Alpine-Kultur-Fans hier am meisten für besondere Hänge, die sich irgendwo zwischen Nizza und Ljubljana verstecken. So ist für Bayern im neuen Band die Garmischer Gletscherabfahrt ausgewählt, während in Balderschwang die FIS-Standard-Strecke mit ein paar knappen und launigen persönlichen Sätzen vorgestellt wird. Viele deutsche, österreichische und Schweizer Pisten waren indes schon im ersten Skipisten-Band der Reihe zu finden, sodass innerhalb des Alpenbogens diesmal eher Geheimtipps in Frankreich, Italien, Slowenien zum Zug kommen.
Da wir in den französischen Alpen die meisten der Pisten selber kennen, wollen wir hier besonders den 13 ausgewählten Skipisten in den Savoyer Alpen huldigen, sie illustrieren und für die nächste Skisause wärmstens empfehlen: Die Auslese der Autoren reicht von dem legendären 19 Kilometer langen Gletschertraumtrip namens „Vallée Blanche“ hoch über Chamonix über die „Reblochon“-Piste in La Clusaz und die „Combe de Caron“ bei Val Thorens bis zur „Sistron“ im südlichen Isola 2000 (von der aus man aufs Mittelmeer blicken kann). Die „Faust“ über dem Retorten-Skiort Flaine ist eine breite Genusspiste im Grand Massif (nahe des Genfer Sees), die zu zwei Dritteln über der Waldgrenze liegt. Sie gewährt einen genialen Blick hinunter auf Marcel Breuers „Bauhaus-Dorf“, das die vielleicht überraschendste Skistation der Welt darstellt. Die Topographie zeigt typische Felsbänder aus Kalk und Sandstein, die hier überall spröde den Schnee durchbrechen. Bei schönem Wetter überragt der Mont Blanc die Szenerie.
Die „Aiguille Rouge“-Abfahrt vom gleichnamigen Gipfel (3226 Meter) ist ein weiterer Skihöhepunkt der Westalpen. Zwischen und über den Skistationen Arc 1800 und Arc 2000 in der Winterlandschaft der Tarentaise beginnt oben am Lift keine geringere Versuchung als die längste schwarze Skipiste der Welt. Zum Glück gibt´s auch ein paar rote Ausweichstellen. Kein Wunder also, dass hier lange auch eine Speed-Skiing-Strecke existierte, auf der Weltrekorde jenseits der 250 Stundenkilometer erzielt wurden. Seit ein paar Jahren wird genau dieses Areal von einer Zipline / Seilrutsche erschlossen, die Passagieren einen 70-sekündigen „Flug“ über das Areal bei Tempo 130 ermöglicht.
Wer also gern Ski fährt und dabei auch noch am liebsten immer völlig unterschiedliche Landschaften genießen möchte, der liegt mit diesem Buch – nicht nur was die Alpen anbelangt – goldrichtig.
Text & Fotos: Alexander Hosch
Das neue Buch:
Christoph Schrahe, Jimmy Petterson, Patrick Thorne: 111 Skipisten in Europa, die man gefahren sein muss, Verlag Emons, 18 €, www.emons-verlag.de
Wo können Skifahrende ein Vier-Länder-Panorama mit freiem Blick auf 400 Alpengipfel genießen? Am goldenen Gipfelkreuz der Zugspitze. In Deutschland ist diese Aussicht ziemlich einzigartig. Top of Germany heißt das kleine Skigebiet hoch über Garmisch-Partenkirchen. Jeden Spätherbst vermummt sich das hochalpine Terrain hier für mindestens ein halbes Jahr ganz in Weiß. Gleich von drei Seiten können die Pistenfans es mit Seil- oder Zahnradbahnen erreichen. Und übrigens kommt das kleine Skigebiet da oben völlig ohne Kunstschnee aus.
Damit möchte ich euch zu Beginn der Skisaison das neue Schneelust-Buch von Polyglott ans Herz legen. Andreas Lesti von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist der Herausgeber. Und sieben Autor*innen, die zusammengerechnet wirklich schon sehr, sehr viele Alpenpisten hinuntergefahren sind, empfehlen 30 Ski-Orte in Europa, in denen die Nachhaltigkeit und ein achtsamer Umgang mit der Natur auf einem besonders guten Weg sind.
Ich durfte einer davon sein und für Schneelust unter anderem Garmisch-Partenkirchen porträtieren. Dort gibt es gleich mehrere Skiarenen. Ich war besonders vom unabhängigen kleinen Zugspitzskigebiet hoch oben angetan. Schon weil es zwischen Schneefernerkopf (2.874 m), Wetterwandeck (2.698 m) und Zugspitzplatt (2.600 m) keine einzige Schneeflocke aus künstlicher Produktion gibt, was eine Seltenheit ist in den Alpen. Lanzen und Schneekanonen wurden hier gar nicht erst aufgestellt. Man kann also nur fahren, wenn es genug geschneit hat. Das ist hier trotzdem ziemlich oft der Fall, in der Regel bis in den Mai.
Neun Aufstiegshilfen gibt es im Zugspitzskigebiet, und seit zwei Wochen kann man nun alle 20 Pistenkilometer befahren. Anfang Dezember wurden u. a. die Skilifte Sonnenkar, Wetterwandeck und Weißes Tal geöffnet, die hier nun alles erschließen. Außerdem erweist sich ein malerischer Winter-Rundwanderweg als zugänglich, die Familienrodelbahn am Gletscher ist auch in Betrieb. Da bereits am ersten Skiwochenende die Skikarten ausverkauft waren, empfiehlt es sich – wenn möglich – lieber wochentags zu kommen und außerdem für Tage, an denen viel Zulauf absehbar ist, die Tickets online zu buchen (www.zugspitze.de).
Letzten Samstag ist zusätzlich die Abfahrt Riffelriß erstmals geöffnet worden. Dabei handelt es sich um einen nicht regelmäßig zugänglichen Superskispaß am Fuß der Zugspitze – erreichbar mit Tourenski oder per Zahnradbahn über die sogenannte Bedarfshaltestelle Riffelriß. Im oberen Bereich führt diese Abfahrt in den freien Skiraum. Die wilde Felskulisse dort mit den steil aufschießenden Riffelwänden kann man als sensationell bezeichnen. Vom Endpunkt eines natürlichen „Tunnelfensters“ aus lockt der Blick hinab auf den Eibsee. Eine Tour für Feinschmecker*innen!
Und los geht’s mit dem Skispaß! Heute früh ist nun auch der Saisonauftakt im größeren Skigebiet Garmisch-Classic weiter unten erfolgt. Ideal am Skiziel Garmisch-Partenkirchen: Man braucht zum Beispiel von München aus bis direkt an die Zugspitzskilifte garantiert kein Auto!
Demnächst schreibe ich euch ein paar weitere Spezialtipps auf, wie man künftig noch mit gutem Gewissen in die Berge fahren kann. Etwa ins Gasteiner Tal oder nach Isola 2000. Das sind meine beiden anderen Texte in Schneelust, dem neuen Standardwerk über geeignete Plätze für nachhaltiges Skivergnügen in den Alpen.
Text & Fotos: Alexander Hosch
Schneelust. Die schönsten Ziele für nachhaltigen Wintersport in Europa, herausgegeben von Andreas Lesti, 2023, mit Beiträgen von Titus Arno, Thomas Biersack, Stephanie Geiger, Alexander Hosch, Andreas Lesti, Barbara Schaefer, Christoph Schrahe.
Übertrieben wäre es, in diesen feucht-trüben Tagen davon zu schwärmen, dass auch hinter unserer neuesten Trouvaille wieder fern und klar die bayerischen Alpen aufragen. Aber von der überraschendsten Münchner Kunstausstellung des Jahres können wir berichten! Denn ein französischer Street Artist namens Invader hat gerade 18 Bilder im Stadtbild hinterlassen. Darunter: Ein aus fast 2000 bunten Mosaikfliesen gelegtes Konterfei des amerikanischen Publizisten und Whistleblowers Edward Snowden. Nur ein paar Meter vom Viktualienmarkt entfernt applizierte der Pariser Künstler das 2,60 mal 2,10 Meter große Pixelportrait Snowdens an eine Schulhauswand. Beinahe in Steinwurfweite der Staatskanzlei.
Der um die Demokratie besorgte Snowden hatte 2013 Dokumente des US-Geheimdienstes NSA geleakt, aus denen hervorging, dass die Ami-Spitzel praktisch die ganze Welt aushorchen, wie es ihnen gerade passt – auch das Handy der Bundeskanzlerin. Weil seitdem aber nicht die NSA von der Justiz der Vereinigten Staaten verfolgt wird, sondern Snowden, muss dieser in Russland ein qualitativ schwer einzuschätzendes, nunmehr schon fast zehn Jahre dauerndes Lebens-Intermezzo von Putins Gnaden fristen. In Amerika droht ihm lebenslange Haft. Trotz seines Einsatzes für die Freiheitsrechte auch deutscher Menschen taten die Politiker der damaligen Groko wie auch die der aktuellen Ampel seither für Edward Snowden: Exakt gar nichts.
Wie schön, dass nun aber offenbar ein großer und weiser Kopf dieses Monument zum 10-jährigen Leakjubiläum, das neue Münchner Mahnmal, bei Invader bestellt hat! Ach, das waren gar nicht unsere Politiker? Wie zu hören ist, initiierte der nach Banksy bekannteste Street Artist die Aktion in München selbst – incognito und ohne Auftrag oder Erlaubnis. Der Künstler, der seit fast 30 Jahren guerillamäßig die Großstädte der Welt bereist und mit seinen verpixelten frühen Computerwesen bestückt, hat nun lauter Werke ins Stadtbild gezaubert, die kongenial mit dem Genius Loci spielen: Brezn und Münchner Kindl am Sendlinger Tor. Pac-Man, der sich eine Mass Bier schnappt, an der Fassade des Lindwurmstüberl. Ein Regenbogen an der Thalkirchnerstraße. Ein „Brezen-Invader“ am Partyschiff Alte Utting. Motive an einem Blumenstand des Viktualienmarkts, im Westend und rund um die Donnersberger Brücke.
Vermutlich in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag sei Invader in München gewesen, mutmaßt das Bayerische Fernsehen. Anfang Mai habe der Mann, der sich einst nach dem Achtzigerjahre-Computerspiel „Space Invader“ benannte, dann mit Spezialkleber seinen Snowden auf die Hauswand am Altstadtring aufgetragen, brachte die FAZ in Erfahrung. Wie dem auch sei. Wir halten diese sympathische Disruption für die beste Münchner Kunst-Idee seit langem. Man könnte jetzt doch einfach aus der Situation Gewinn ziehen und das geschenkte Bild zum Beispiel nächste Woche feierlich als Denkmal für die Demokratie enthüllen.
Wir sind jedenfalls schon gespannt, wie die bekanntesten Freiheitskämpfer aus der bayerischen Politik pünktlich zum beginnenden Wahlkampf mit dem Mosaik, das ja jetzt nun mal einfach da ist, umgehen. Zwar ist Edward Snowdens Fliesenkonterfei, übrigens auch eine nicht ganz unvirtuose Handwerkskunst, inzwischen von einem Werbeplakat verdeckt worden. Die Veranstaltung ist aber schon vorbei. Den Lappen kann man also ohne Schaden wieder abmachen. Und so dem Hauptwerk der zur Zeit besten und wichtigsten Münchner Kunstausstellung den Platz einräumen, den es verdient.
Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:
Heimlicher Alpenfilm #21
Die Landschaft ist tiefgekühlt. Es schneit dicht. Die Kamera der Anfangssequenz zieht einen eleganten Schwenk über Fluss, Felsen, Schnee. Und landet dann mitten in der weißen Wüste auf dem erfrorenen Gesicht einer Frau. Sie schlägt die Augen auf.
Tod oder Täuschung im französischen Winter? Ein doppelbödiger Film beginnt. Bald geht es um Serienmorde. Da strömen im Geist doch gleich purpurne Flüsse durch die weiße Pracht. Doch die Lage ist anders als für die Schauspieler Jean Reno und Vincent Cassel damals, die im Kassenschlager des Jahres 2000 zwischen Albertville und Grenoble unterwegs waren, also rund 150 Kilometer südlich. Diesmal schwirren die französische Polizistin Constance (Clémentine Poidatz) und ihr Schweizer Kollege Andreas (Laurent Gerra) durch das Grenzgebiet hoch über dem Genfer See. Unmotiviert bis unwillig beginnen sie ihre gemeinsamen Ermittlungen im Nebel und im Schneegestöber. In den eisigen Höhen eines der beliebtesten Skigebiete zwischen Wallis und Haute Savoie wird zuerst die Leiche eines Jugendlichen mit 4 Promille im Blut gefunden, dann werden noch weitere Opfer geborgen. Hängen die Taten zusammen? Sind sie in der gleichen Nacht geschehen? Aus demselben Grund? Bald wird klar: Die Sache hat mit einem Skiteam zu tun, das vor 20 Jahren den Nationalkader bildete. Auch Constances verschollene Schwester gehörte ihm an.
Offenbar schlägt die Vergangenheit jetzt neue Wunden. Aber ist der Mörder nun ein durchgeknallter Tourist? Oder doch ein alter Bekannter? Constance und Andreas pflügen in Eric Valettes Thriller von 2021 mit Schneemobilen, Schlittenhunden, Seilen und Steigeisen durch die Hochebenen und über die Klippen. Ansonsten stochern sie lange im Nebel. Die an sich sonnenverwöhnten Skistationen der Portes du Soleil liegen still, düster und grau. Zwei Drehorte waren das traditionelle Dorf Morzine und das futuristische, vom Pariser Architekten Jacques Labro erbaute Avoriaz auf 1800 Metern, beides prominente Skiresorts.
Doch ist dies weder ein Architektur- noch ein Bergfilm. Auch kein Skifahrerfilm. Vielmehr ein atemberaubendes Rachedrama. Die Energien von einst und heute treffen sich wie in einer Schneekugel, sie bilden Kristalle, kein Molekül kann rein oder raus. Und Constance muss Spuren suchen, ob sie will oder nicht. Welche Rolle spielen der Bürgermeister, der Immobilienzar, der korrupte Umweltschützer? Warum stolpern sie und Andreas über ein Absinthversteck und die gefälschten Schadstoffprognosen eines projektierten Wasserparks? Wieso ist die Kältekammer des abgewrackten Fitnessstudios so perfekt intakt? Die Filmerzählung ist sehr schön spannend – und psychologisch solide konstruiert. Langsam schält sich die schreckliche Wahrheit aus dem Plot. Und die Ästhetik baut auf die Bildermacht der krassesten Steilhänge und Felsgründe. Wer von Morzine per Seilbahn mal selbst ins autofreie Avoriaz hinauffährt (was hiermit empfohlen wird), kann diese besondere Landschaft, unweit des Mont Blanc, jeden Winter in ihrer ganzen Dramatik erleben. Das hat der Regisseur natürlich ausgenützt.
Text und Fotos: Alexander Hosch
Schwarz wie Schnee, 2021, 85 Minuten, Verleih: Atlas Film Home Entertainment, DVD / Blue Ray ab 12,99 Euro; Streaming wird auf wechselnden Plattformen angeboten.
Und schaut doch bitte – nach dem Lesen – noch zu unserem hier verlinkten heimlichenAlpenfilm #7:
In Bad Gastein tut sich was. Seit Jahrzehnten lümmeln im Zentrum starre, leere Riesen herum – morbide Luxushotel-Karosserien aus längst vergangenen besseren Zeiten. Jetzt künden Plakate endlich neue Unterkünfte für eine neue Zeit an. Inzwischen gibt es sogar eine gesperrte Orts-Durchfahrt und richtige Kräne an der Baustelle rund um das Ensemble aus Grand Hotel Straubinger, Alter Post und Badeschloss. Das Land Salzburg hat 2018 einige der maroden alten Paläste mit den Zuckerbäckerfassaden gekauft – um sie flugs an Investoren weiterzureichen, die das unvergleichliche Setting nun bis 2023 für sich und ihre Vier- bis Fünf-Sterne-Services nutzen wollen. Hotels, Bars, Gyms, Spas. Her damit.
Das Panorama ist aber auch wirklich unkopierbar. Eine tiefe Schneise für den berühmten Wasserfall hat die Natur hier geschlagen. Drumherum baut sich malerisch ein steinerner, aber auch irgendwie sehr versteinerter Ort der Belle Époque auf. Darunter scheint einem das lange Tal die Traumaussicht bis nach Hofgastein und Dorfgastein unter den Augen wegziehen zu wollen. Darüber türmen sich die höchsten Salzburger Tauerngipfel. Ganz und gar zauberhaft. Und immer noch so, als hätte man das alles hier in jener Ära vergessen, in der die radonhaltigen Wasserquellen entdeckt wurden. Damals kam das aristokratische Europa von St. Petersburg bis Madrid hierher.
Wann wird Bad Gastein wieder komplett wachgeküsst sein? Mal sehen. 65 Millionen Euro wurden 2018/19 in eine neue Seilbahn zur Schlossalm und zur Hohen Scharte im benachbarten Hofgastein investiert. Ebenfalls mit immer neuen Gimmicks locken Felsentherme und Alpentherme. Bars, Hütten und Hotels rüsten unermüdlich für das Wunschpublikum der Zukunft auf: jung, solvent, kosmopolitisch, urban.
Ein kleiner Teil davon ist schon da. Einige Barbetreiber und Hoteliers, die Gastein längst als Wintersport-Destination der Zukunft entdeckt haben, kosten mit ihren Gästen aus aller Welt – allesamt Ski-Desperados – den Zauber dieses alten Kaiserbades der Sommerfrischler aus dem 19. Jahrhunderts schon seit zwanzig Jahren aus. Die Boutiquehotels Haus Hirt, Miramonte und Regina etwa haben früh erkannt, dass Bad Gastein reif für junge Erlebnishungrige ist. Deshalb kommen seither ein paar Hipster aus Berlin, Moskau, Kyiv, London, Amsterdam und Kopenhagen. Für die sprechen einige der Angestellten „only english, please“, was an einem normalen Ski-Nachmittag im März zwar ein wenig albern klingt, aber immerhin gut zum Lese-Angebot auf dem Coffeetable passt: Monocle, Wallpaper, Financial Times. Da will der Ort also hin. Gut so! Das Karma, die Speisekarten – Earl Grey Tea zu Marillen-Palatschinken – und die ersten chicen Interiors sind bereit dafür. So bereit.
Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:
Die heimlichen Alpenfilme: #16
Der Nachtlokalbesitzer Georgio sieht wirklich sehr gut aus, und er kann so was von charmant sein. Nichtdestoweniger ist er das Abziehbild eines Cis-Mannes. Wann immer die nicht mehr ganz junge Anwältin Tony, die ihn in einer Diskothek kennengelernt hat, Zeit mit dem narzisstischen Superalphamännchen verbringt, tauchen wie selbstverständlich Georgios Ex-Gespielin, das Model Agnès, und ihre Freundinnen mit auf. Oder waren sie gar nie weg? Und sind da etwa noch aktuelle Favoritinnen dabei? Man weiß es nicht.
Bist du ein Idiot?, fragt Tony Georgio, nunmehr ihr Ehemann, eines Tages im Bett. Er antwortet: Ich bin der König der Idioten. So in etwa lässt sich der ganze Film von 2015 (Originaltitel: Mon roi) beschreiben. Tony, die sich durchaus an Georgios Spiel mit sexuellen und anderen Perversionen erfreuen kann, kommt sich immer öfter wie das fünfte Rad am Wagen inmitten all der Beauties in Georgios Entourage vor. Der beredte Manipulator nimmt schließlich das leichtsinnige Schlendrian-Dasein und seine Koks-Sucht vollends wieder auf. Nachdem Tony das gemeinsame Kind ihrer toxischen Liebe geboren hat, verbringt sie die Zeit vor allem allein mit dem Jungen Simbad, den Georgio indes abgöttisch liebt und bald lieber besucht als Tony. Eine immergleiche alte Geschichte nimmt ihren Lauf.
Glücklich ist am Ende wohl niemand – bis auf eine Tatsache: Dass Vincent Cassel und Emmanuelle Bercot eine unglaublich glückliche Besetzung für ein total verkorkstes Paar sind. Schwer jemand würde die triste Passage der unglückseligen Tony feinfühliger und glaubwürdiger umsetzen als Bercot, die dafür 2015 in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Und kaum einer kann die Rolle eines majestätischen Super-Arschlochs so gekonnt erfüllen wie Vincent Cassel, der zurecht für seine ambivalenten Darstellungen immer wieder Preise erhielt wie etwa 2009 den César als bester Hauptdarsteller in Public Enemy No 1. Bei uns war Cassel natürlich früher auch schon mal erste Wahl: im heimlichen Alpenfilm #7 Die Purpurnen Flüsse(bitte gerne gleich anschließend rüberklicken!).
Tony und Georgio leben in Paris. Ihre Wende bekommt die in Rückblenden erzählte Story aber im Schnee der Alpenberge, wo Tony (gleich zu Anfang des 128-Minuten-Films von Regisseurin Maiwenn) auf der Skipiste verunglückt, worauf sie am Meer eine Knieverletzung ausheilen muss, die zur Psychotherapie über die gescheiterte Beziehung wird. Der Film wirft viele Fragezeichen auf, man schluckt zusammen mit Tony immer wieder irritiert die Manöver und die Kröten Georgios – und versteht am Ende doch nie, warum beide so handeln. Andererseits: Mon roi heißt Mein König. Und jeder kennt in der Realität gar nicht wenige Beispiele von Paaren, die es – auch oft mit Königin – genau so anstellen. Auch die versteht man nicht. Aber sie sind überall. Das macht die Faszination und die Treffgewalt dieses Films um Liebe und Verrat aus, der zwar nur ein paar beiläufige Spritzer Schnee und Bergsichten enthält, jedoch gerade deshalb ein besonders heimlicher Alpenfilm ist. Alexander Hosch
Mein ein, mein alles / Mon roi (2015). Immer mal wieder auf Netflix, zur Zeit aber nicht in D/A/CH. Jedoch ist der Film aktuell auf zahlreichen anderen Streamportalen zu kaufen / zu leihen.
Tote Bauwerke sind, solange sie gut aussehen, besser als jedes hässliche neue Archi-Nichts. Davon lebt der traumschöne Ski-Ort Bad Gastein im Salzburger Land prächtig. Berliner und andere westliche Hipster, Moskauer und andere östliche Oligarchen streifen seit Jahren wonnevoll durch eine Wintermärchen-Topografie aus kaiserlichen Kurparks, Wasserfällen und verlassenen Grand Hotels.
David Schalko ist bekannt als Braumeister österreichischer Gegenwartsdramen, in Bild und Schrift. Er legt nach der TV-Serie Braunschlag und dem Film Aufschneider mit Josef Hader jetzt Bad Regina vor – seinen dritten Roman. Der Ortsname ist erfunden, aber die Blaupause für die präzis aus Heilwasser, Zaubersanatorium, brutalistischem Kongresszentrum, Casino und Partymeile zusammengeprintete Touri-Idylle glaubt man zu kennen. In Schalkos literarischer Handlung sind zunächst die Architekturen die Stars. Der zarte Glamour ihres Verfalls puderzuckert eine Dorfwelt unter feschen Alpengipfeln. Nach und nach nimmt allerdings ein beachtliches Österreich-Bashing Fahrt auf.
„Der Österreicher war schon Nationalsozialist, bevor Hitler kam. In Österreich ist jeder ein Nazi. Acht Millionen Einzelfälle“, sagt einmal unvermittelt, aber geschliffen, der Intellektuelle unter den Dörflern. Auch sonst werden – im Gasthaus – immer wieder posttraumatische Bewirtungs-Störungen hinausgedonnert. Das ist der Schalko-Sound. Dazu wird eine Reihe ziemlich kaputter Ösi-Existenzen kredenzt. Monströs bösartige Scheinriesen. Oder unterwürfige Angsthasen, die sich zu allem zu klein fühlen. Das frühere Sex-Sekten-Mitglied Selma. Die irre alte Zesch. Der Vamp des Kaffs, Gerda. Ein frustrierter Ex-Clubbesitzer, Othmar, der mit dem Bürgermeister Heimo, dem abgetakelten Adligen Wegenstein und vierzig anderen letzten Bewohnern der Fast-Geisterstadt tief im Felsgestein Seltsames erlebt. Genüsslich fuhrwerkt der Autor in diesem Setting herum und lässt seine Personnage – als Trauma-Raumschiff Österreich – durch Bad Regina irren. Über einen „Chinesen“, der nach und nach alle Häuser aufkauft, dringen dann aktuelle Zukunftsängste herein. Was will der böse Fremde nur?
Ist das wirklich ein Roman?, fragt sich der Leser zuweilen, wenn der Text wie beiläufig Aphorismen ausspuckt, die nach Serien-Cliffhangers klingen. Oder wenn der Schriftsteller nahtlos Kammerspiel-Dialoge à la Burgtheater in die Prosa streut. Hasst Schalko seine Heimat? Möchte er der nächste Thomas Bernhard werden? Ist er es schon? Am kurzweiligsten liest sich Bad Regina überall da, wo mit schickem Namenszauber die Leser und Themen von heute abgeholt werden. Es gibt das Hotel Waldhaus, das Beisel Luziwuzi, den tief im Unterbewusstsein weiter rumorenden 90er-Jahre-Felsenclub Kraken, den gedächtnislos dahinvegetierenden Ex-DJ Alpha X aus Manchester und einen Dorfpolizisten, der den Transvestiten Petzi liebt. Skurril.
An manchen Stellen ist das 400-Seiten-Werk etwas langatmig, da wird zu genau erklärt, es treten zu viele Charaktere mit Eigenheiten auf, die man längst vergessen hat, wenn sie das nächste Mal auftauchen. Dann stockt das Lesevergnügen etwas. Aber der Roman findet ein feines Ende, in dem stimmig und in eleganter Sprache alles aufgelöst wird. Am besten ist es, sich vorzustellen, dass Schalko hier eigentlich gleich ein Filmskript vorgelegt hat. Der Regisseur Wes Anderson mag 2014 im oscarprämierten Arthousefilm Grand Budapest Hotel schon die zauberschönsten Bilder aller Zeiten für den Kult des aparten Verfalls gefunden haben.
Aber sei´s drum. Jetzt will man so schnell wie möglich den abgründigen Humor der grotesken Dorfkamarilla aus Bad Regina auf einem Bildschirm sehen. Text und Foto: Alexander Hosch
David Schalko, Bad Regina, 2021 (3. Auflage), Kiepenheuer & Witsch, ISBN978-3-462-05330-2, 24 Euro.
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