Nach der Gaudi

Mit dem Auge eines Kabarettisten macht sich Lois Hechenblaikner immer wieder nach Ischgl auf: Um in den Schifahrermonaten den Ort und seine Spaßfolterexzesse zu dokumentieren. Seit 26 Jahren. Da tun sich ein paar Fragen auf:  Ist der Fotograf, was Musik und Ästhetik angeht, vielleicht selbst Masochist? Oder locken dort im Verborgenen die Fifty Shades of White? Die Antwort ist einfacher und komplizierter zugleich: „So etwas muss eine Einschreibung auf der Seelenlandschaft sein, sonst tust du dir das nicht an“, sagte der Tiroler gerade zur SZ und begründete seinen Zwang biografisch: Er sei – im Alpbachtal – selbst als Sohn einer Gastwirtsfamilie aufgewachsen.

Jetzt hat die Coronakrise das eigentlich multiple Problemphänomen der Après-Skistadelwelten auf ein einziges Stichwort reduziert, das inzwischen schon wie eine Diagnose klingt: Ischgl. Behördenversagen und Leichtfertigkeit sorgten für die Sofort-Ansteckung von Skifahrern aus aller Welt mit Covid-19 und für katastrophale Presse überall. Ein Vertrauensschock, von dem sich der Ort so schnell nicht erholen wird.

Nun ist gerade Hechenblaikners gleichnamiger Fotoband erschienen,  – wie die Vorgänger „Volksmusik“ und „Winter Wonderland“ beim Steidl Verlag. Der Fotograf konnte dafür aus 9000 Ischgl-Fotos wählen. Stilistisch ist er mit seiner Leica meist in den Spuren der anekdotischen und der dokumentarischen Pressefotografie des 20. Jahrhunderts unterwegs. Zeigen, was ist. Das klingt altmodisch, ist aber ein großes Kompliment. Weil der Tiroler nicht wie andere das tun, bereitwillig auf das Stilmittel der Ironie verzichtet – nur weil das neuerdings bei manchen als politisch unkorrekt gilt. Hechenblaikner urteilt mit jedem Bild. Die Fotos sind laut, der Inhalt kann grob und hässlich sein. Das Werk aber ist gut und subtil. Der Betrachter kann das heftige Urteil teilen. Oder lieber den perfekten Bildaufbau bewundern.

So durchdringt ein schaurigschöner Charme des Schrecklichen das Buch und alle seine Fotos von Betrunkenen und anderweitig Enthemmten. Jodelsuff, Trachtenexzesse und chauvinistische T-Shirt-Botschaften bevölkern darin die Tränken vor den Monsterpensionen, deren Gesamtheit Hechenblaikner neulich  – Stephen King lässt grüßen – in einem TV-Beitrag ein „alpines Shining“ genannt hat. Als Ästhet weiß er genau, wie gut den Schlechtwetter-Kompositionen des ewigen Graubraun, Grün und Weiß der Berge im Bild manchmal die grellen Farben der Bierträger, Anoraks oder in Vitrinen geparkten Luxusautos tun. Das macht er sich auf seiner Spurensuche zunutze. Nur für einzelne Aufnahmen holt er Optiken oder Techniken der Becher-Schüler zu Hilfe, wobei diese explizit künstlerischen Fotos mit ihrer Maximalästhetik eher als Thementrenner und wie vegane Beilagen wirken. Das Beef aber kommt blutig.

Bleibt eine Frage: Geht´s nächsten Winter in Ischgl wieder genau so weiter? Keiner weiß es. Fest steht nur, dass garantiert der Fotograf wieder kommen wird. Ein sehr gutes, ein wahrhaftiges Buch.

Text: Alexander Hosch

 

Lois Hechenblaikner: Ischgl, 2020, Steidl Verlag, 224 Seiten. Fotoband mit einem Essay von Stefan Gmünder. ISBN 978-3-95829-790-6,  34 Euro.

300 Tage Sonne

Es war ja so was von angesagt: Bikini-Skifahren… Und einer von mehreren verrückten Gründen, warum die Skistation Isola 2000 vor knapp fünfzig Jahren Kult wurde. Die Stars flogen vor allem aus Swinging London ein. Dann versüßten sie sich ihre Osterferien am Mittelmeer mit einem Skiwochenende in den Südalpen. Wo? Nur eine Stunde weg von Nizza, am Rand des Mercantour-Nationalparks an der Grenze zu Italien. Zu Beginn kamen Roger Moore und Beatles-Drummer Ringo Starr. In den Eighties waren Regisseur Luc Besson und Rocker Bono Vox von U 2 die besten Isola-Promis. Oder Autorennfahrer wie Alain Prost und Gilles Villeneuve, die auf der Eispiste um die Wette fuhren.

Lohnt der Trip heute noch? Und wie. Prinzessin Stéphanie von Monaco verbringt hier angeblich immer noch jedes Jahr schöne Tage im Schnee. Doch vor allem ist das schneesichere, 2000 Meter hoch gelegene Winterziel inzwischen für jedermann leicht erreichbar. Fahrtdauer mit dem Linienbus von Nizza oder Nizza-Flughafen: 60 Minuten (Preis: ein Euro).

Von ganz oben kann man dann sogar an ein, zwei Stellen mit dem Skistock aufs Meer hinunterdeuten. Hotels, Clubs, Bars, Pools im Freien – all das gibt es in Isola 2000. Englische Investoren eröffneten das neue Wintertraumziel an Weihnachten 1971. Die Besitzer wechselten oft, aber die Höhepunkte sind – wichtig für die Gäste – alle noch da: Vor allem Sonne und Schnee, die zwei wichtigsten Accessoires von Isola 2000, treten verlässlich von November bis Ende April als Duett auf. Und das Panorama an der Bergstation des Sistron-Lifts, von wo aus man das Meer sieht, ist praktisch unzerstörbar.

Dass tatsächlich einst viele in Badesachen durch den Schnee brausten, passte zum Stil der Zeit. Bis in die Französischschulbücher schafften es in den Siebzigerjahren die glamourösen Ski-Models ohne Overall – und die Männer mit Badeshorts und gebräunten Sixpacks. Es war eine andere Skigalaxie. Nackte Haxen in Skischuhen gab es zwar auch im Engadin und in Lech. „Aber nirgends war es so sonnig wie bei uns“, sagt der frühere Skirennläufer Eric Morisset, dessen Familie in Isola den Skiverleih führt. In Lucs Laden hängen zum Glück die verführerischen Fotos von anno dazumal noch als Plakatwand, so dass wir auch heute über Autorennen auf der Eispiste und Skilehrer in Orange staunen können.

Heute zahlt der Gast in Isola 2000 für das Sonnenskitagesticket maximal 35 Euro. Auf 120 Pistenkilometern verkehren bis 19. April 35 Skilifte. Es gibt drei schwarze, elf rote, 21 blaue und sieben grüne Pisten zwischen 1800 und 2650 Metern (plus Snowpark). Pausenspaß bei Rotwein, Pizza oder Entrecôte lockt im angesagten Cow-Club, wo schon im Dezember elegante Tagesgäste von der Riviera pausieren. Zu manchen Restaurants kann man nachts im Motorschlitten-Taxi brausen. Zimmer und Appartements sind in Isola 2000 eher günstig. Zugegeben: Man muss ein bisschen verrückt sein… Ist das aber der Fall, dann spricht an Ostern wirklich gar nichts dagegen, auf zwei Strandtage noch zwei Pistentage zu setzen.

Text: Alexander Hosch

Neues von der Wolkenschieberbande

Villa S. mit lokaltypischem Salettl, Millstätter See in Kärnten, 2006.          Foto:   Alexander Hosch

„Wolke“ heißen alle ihre Entwürfe seit dem Gründungsjahr 1968. Damals und ungefähr bis 1995 aber nummerierte das Architekturbüro coop Himmelb(l)au erst einmal nur Kunstaktionen, Skulpturen, Cafés, Bars oder kleine Pavillons durch. Mittlerweile reicht der Wolkengürtel rund um die Welt – von Aalborg in Dänemark und Lyon in Frankreich bis Dalian oder Shenzhen in China, Busan in Südkorea und Los Angeles in den USA. Und er umfasst Großprojekte: Museen, Opern, die BMW Welt, Banken, Hochschulen.

Diese aktuellen Ikonen kommen alle vor in der neuen Filmdokumentation von Mathias Frick über die Architekten. Dennoch geht es vor allem zurück: nach Österreich, wo die Geschichte von coop Himmelb(l)au anfing und wo Wolf D. Prix, der unumschränkte Matador des Büros, beeinflusst unter anderem von Keith Richards´ Gitarrenriffs, seit 50 Jahren gegen Bürokratie und Architekturfolklore kämpft. Gegen den Wiener Barock kämpfte er anfangs auch. Doch wenn man genau hinschaut: Ist der – in seiner zeitgenössischer Gestalt – nicht längst ein genuiner Teil der himmelblauen Architektur?

Details der Villa S. (o. und r.). Unten Wolf D. Prix im Salettl. Fotos: Alexander Hosch

 

„Architektur muss brennen“ zitiert im Titel ein frühes, radikales Prix-Gedicht. Der Film hat im Zentrum heitere und melancholische Interviewausschnitte mit Prix. Im Büro in der Spengergasse im 5. Wiener Bezirk Margareten. Im Haus Soravia am Millstätter See, das in Kärnten liegt, aber fast wie eine Tropenvilla aussieht. Oder im verlassenen, teilrestaurierten Elternhaus an der slowakischen Grenze, wo Prix in Hainburg einst als Sohn eines Architekten aufgewachsen ist und 2011 die Martin-Luther-Kirche gebaut hat. Der befreundete Bildhauer Erwin Wurm kommt in der Dokumentation zu Wort, ein Wissenschaftler, Architekturjournalisten. Einmal sieht man den jungen Prix für ein frühes Kunsthappening in einer durchsichtigen Wolke durch Wien laufen. Das einzige Schweizer Vorhaben, das für die Expo 2002 auf- und später leider wieder abgebaute Arteplage-Projekt auf dem Bieler See, erhält prominent Raum. Eine andere Szene zeigt den legendären Flammenflügel von 1980 auf dem Steirischen Herbst in Graz. Dabei entsteht in der Summe der Eindruck, dass all die kleinen Projekte in der oder rund um die Alpenrepublik – wie das Alban-Berg-Denkmal, das 2016 vor der Wiener Staatsoper aufgestellt wurde – dem Schöpfer Prix persönlich womöglich wichtiger sind als all die Weltarchitekturen der letzten Jahre.

Martin-Luther-Kirche in Hainburg, 2011.              Foto:  Sabine Berthold

Prix erzählt: Über das Zeichnen der Projekte aus dem Unbewussten heraus. Über die wiederkehrenden Motive – Kegel, Türme, Rampen, Treppen ins Nichts. Er verrät auch, wo sie herkommen – etwa aus der Inspiration einer Förderanlage in Hainburg an der Donau. Der zweite coop-Gründer, Helmut Swiczinski, ist in dem Film im Geiste immer dabei. Obwohl er längst ausgestiegen ist, weil er – so Prix´ Erklärung – das Wachsen der Projekte und des Büros nicht schätzte. Man merkt, wie leid Prix das immer noch tut, und wie wichtig ihm der Zauber des Anfangs ist. Aber es ist auch gut, dass coop Himmelb(l)au die institutionellen Aufträge für das Musée des Confluences in Lyon und die Europäische Zentralbank in Frankfurt durchgezogen haben, trotz gewisser Einschränkungen durch die Bauherren oder die technische Überwachung. Warum sollte man den so erfolgreichen, aber oft auch so langweiligen Problemlösern in der Architektur auch noch die letzten zwei Prozent der Projekte in der Baukunst überlassen? Die Nähe des Büros coop Himmelb(l)au zur Kunst war lange Zeit eine Bürde, ehe sie sich doch noch als Glücksfall für die Architekten erwies (und für die Architektur). Bis 2000 bauten sie so gut wie nichts. Danach ging der Erfolg der Vollstrecker von Phantasie auf der Baustelle durch die Wolken.

Text:  Alexander Hosch

„Architektur muss brennen. Wolf D. Prix und coop Himmelb(l)au“, Film von Mathias Frick, navigator film/hook film, DVD, 56 Minuten, 2019, www.navigatorfilm.com

www.coop-himmelblau.at

Die Villa S. wird auf 8 Seiten mit Text, Bildern, Plänen und Schnitten auch in meinem Bildband vorgestellt, der die weltweit besten Villen der beginnenden 2000-er Jahre zeigt: Traumhäuser am Wasser, Alexander Hosch, Callwey Verlag, 2012, ISDN 9783766719775, www.callwey.de.

Und irgendwann kommt Banksy

Die Stadt Linz ist irgendwie so un-mozartig. Auch ziemlich un-wienerisch und überhaupt: schwer antibarock. Das war sie schon im 20. Jahrhundert. Linz ist eine Arbeiterstadt, geprägt vom Stahlwerk Voest-Alpine, das früher mal eine Nazi-Waffenschmiede war und auf den Namen Hermann Göring Werke hörte. Bitter. Aus dieser schwierigen Situation und der herausfordernden geografischen Lage zwischen den beiden zuckersüßen und zartschnörkeligen Bestsellercities Salzburg und Wien heraus hat sich Linz seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nachhaltig befreit – und immer wieder etwas Besonderes draus gemacht. Bessere neue Architektur. Interessantere Kunst. Jüngere Musik. 2012 kam eine weitere Sensation dazu: Mural Harbor – das ist ein Freiluft-Art-Laboratorium mit Galerie, Workshops, Touren und inzwischen mehreren hundert teils riesenhaften Graffiti-Kunstwerken, die auf nicht mehr gebrauchten Speichern in den Hafenbecken an der Donau prangen.

Seit 2016 gibt es dort einstündige Bootstouren, die von April bis Oktober jeden Samstag stattfinden, den Rest des Jahres bei individueller Buchung (und für Gruppe von elf bis 20 Personen) an einem vereinbarten Vor- oder Nachmittag. Dann führt ein fachkundiger Guide (in der Regel aus der Graffiti- oder Hip-Hop-Szene) über die Wellen zu den einzelnen Kunstwerken des Muralismo. Man staunt über die Geschichten der Bilder und die Übertragungstechniken mit und ohne Schablone. Einige der berühmtesten Graffiti-Writers und Mauermaler der Welt, Künstler aus 30 Nationen wie die Szenegrößen Aryz, Roa, Dexter, Nychos und 1UP nahmen in den letzten sieben Jahren die Gelegenheit wahr, in der „Hafengalerie“ bis zu 50 Meter hohe Industriebauten zu besprühen oder mit der Rolle zu bemalen: Nach der Tour können Teilnehmer – wie auch euer Autor das tat – im Crashkurs von professionellen Sprayern das Erzeugen eigener Murals und Tags lernen. Einmalig.

Klar, das Verbotene und Klandestine ist hier ein Stück weit mit Kommerz und Citymarketing in Verbindung getreten. Aber wenn jene weltberühmte Zeichnung vom Punkerpenner, der einen schwulen Polizisten küsst (ein Cartoon, das einst der Linzer Karikaturist Gerhard Haderer erfand), hier im Hafen nun in der Form eines 5-Meter-Graffitos weiterlebt, dann ist dies ein höchst aktuelles Statement, das mindestens bis zum Dachstein leuchtet. Und es stellt auch heute noch eine wichtige und dringend notwendige Rebellion gegen Spießermief und biederen Alltagsgeschmack dar. Gerade in Österreich.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

 

 

Mural Boat? Mural Walk? Buchung+Info: www.muralharbor.at, +43 6646575142

Eis und Weiß

Klimazeugen von der Eiszeit bis zur Gegenwart. Der Autor, Polarforscher und Glaziologe Gernot Patzelt hält den Lügnern und den Leugnern und der menschengemachten Naturzerstörung jetzt die Gletscher selbst entgegen. Mit ihrer Geschichte, mit ihrer Gestalt, mit diesem nagelneuen Buch.

Dabei geht es hier erst einmal um die reine Schönheit. Denn die Bilder, mit denen Patzelt hauptsächlich arbeitet, sind faszinierende alte Aquarelle und Tuschezeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Caspar Wolf, Jean-Antoine Linck und Samuel Birmann, Thomas Ender und Ferdinand Runk rückten den großen Gletschern Europas wie der Pasterze am Großglockner, den Eiswüsten Bossons und Mer de Glace unter dem Mont Blanc sowie dem Grindelwaldgletscher zuerst mit Seilen und Steigeisen, vor Ort dann auch mit Pinseln und Tuschfedern zuleibe. Vor allem die hochattraktiven Arbeiten der beiden Letzteren, sie waren Kammermaler des österreichischen Erzherzogs Johann, geben diesem neuen Werk sein Gesicht. Der Erzherzog schickte Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder Abordnungen los, um eine Bestandsaufnahme seines Territoriums mit diesen wundervollen Naturerscheinungen zeichnen zu lassen. So wurden aus Zeichnern und Landschaftsmalern fast automatisch nebenbei auch Forscher, Dokumentare, Chronisten. Denn so gut wie niemand sonst wagte sich in dieser Zeit, in der die abergläubischen Menschen im ewigen Eis die Begegnung mit Mary Shelleys Frankenstein oder anderen Dämonen fürchteten, in diese Höhen.

Patzelt, emeritierter Geografie-Professor der Universität Innsbruck, konfrontiert die Wasserfarbenbilder aus der Zeit, in der Europas Gletscher ihre maximale Ausdehnung erreichten, mit aktuellen Fotografien ihrer kläglichen Reste. Er ergänzt sein Werk um zahlreiche wissenschaftliche Daten und Fakten der letzten 50.000 Jahre, um Diagramme und Statistiken. So ist ein vielfach lohnendes Monument entstanden – schön, klug und wissenschaftlich, geschmückt von vielen doppelseitigen Ansichten. Wenigstens während man dieses vor wenigen Tagen neu erschienene Buch durchblättert und ansieht, herrscht Eiszeit für dummes Gezwitscher und Gequassel.

Text: Alexander Hosch

Unsere Abbildungen zeigen österreichische Landschaften in den Ostalpen: Gletscher über dem Gasteinertal, am Großvenediger und am Großglockner. Die originalen Aquarelle und Tuschebilder von Thomas Ender und Ferdinand Runk entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Gletscher. Klimazeugen von der Eiszeit bis zur Gegenwart“, von Gernot Patzelt, Hatje Cantz, ISDN 978-3-7757-4535-2, 52 Euro. www.hatjecantz.de

Nach Castello di Rivoli

Egal wie man in Turin landet – per Flugzeug, Auto oder Zug: Der Weg von München aus ist immer voller Alpenberge. Denn diese Stadt liegt noch näher an den weißen Riesen als München. Und 30 Kilometer westlich, schon in Richtung Sestriere, Aostatal oder anderer Turiner Haus-Skiberge, versteckt sich in den Hügeln ein Backsteinschloss von Filippo Juvarra, das nie fertig wurde. Der Grund: Es war so versailleshaft teuer, dass selbst die Herrscher von Savoyen am Ende nicht mehr zahlen konnten. Die Gipfel dahinter ragen davon unbeeindruckt seit 200 Jahren hoch. Gigantisch nah.

In der Barockruine aber ist – seit man sie 1984 in Form gebracht hat – Italiens ältestes Museum für zeitgenössische Kunst zuhause. Die grandiose Sammlung – dirigiert von der Ex-Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev – breitet sich in original stuckierten, aber sonst komplett ausgeräumten Hallen aus und gilt als die beste der Welt, was Italiens Arte Povera angeht (also Jannis Kounellis, Mario Merz, Michelangelo Pistoletto, Giuseppe Penone, Roberto Burri und Co). Und sie ist zumindest erstklassig, was Minimal Art, Land Art und alle Konzeptkünste angeht, die zwischen 1960 und der Gegenwart entstanden. Aktuell stellen Hito Steyerl und Anri Sala aus.

Dem Castello zugeteilt ist seit wenigen Wochen – und das ist ganz und gar unglaublich – eine nur 500 Meter entfernt liegende Schatzkammer der Kunst: die Collezione Cerruti. Bis vor kurzem war das eine Privatvilla. Doch Signor Cerruti vermachte alles an die Öffentlichkeit. Mit dem Shuttle fährt man jetzt in zwei Minuten vom Schloss zur Villa. Drin hat man dann etwa eine Stunde in kleiner Runde. Wofür? Für tausende Kunstschätze – Möbel, Bücher, Gläser, Porzellan, Skulpturen, Gemälde – die nach Quellen der New York Times zusammen 600 Millionen Euro wert sein sollen. Darunter finden sich – auf vier Etagen und 400 Quadratmetern – bestens gesicherte Goldgrundtafeln der frühen Renaissance, Werke von Renoir, Dutzende Arbeiten von Boccioni, Severini, Morandi, de Chririco, Fontana und auch gleich noch von Kandinsky, Klee und Picasso. Aber kaum verlässt der Gast diese Pracht und steht, davon noch ganz benommen, im Garten, übernimmt sofort wieder die alpine Gipfelsilhouette das Regiment, die hier als ständige Dramakulisse funktioniert.

Text und Fotos: Alexander Hosch

https://www.castellodirivoli.org/mostra/

Linzer Mucke

Anton Bruckner wurde hier geboren. Franz Schubert hat mit Blick auf diese Stadt oft Ferien verbracht. Mozart schrieb 1783 in vier Tagen die „Linzer Symphonie“. Und Beethoven vollendete dort 1812 seine Achte – Linz ist eine Musikstadt, schon immer gewesen. Seit 1979 gibt es jedes Jahr rund ums Brucknerhaus, die Donau und das Ars Electronica Center die berühmte “Klangwolke”. In den 1980er Jahren kam die Institution Posthof dazu: ein junger Ort für anspruchsvollen Rock und für Punk-Musik, an dem früh heutige Legenden wie The Fall aus London oder Suzanne Vega aus New York gastierten.

Vor ein paar Jahren hat Linz nochmal nachgeladen. 2013 entstand mit dem Musiktheater am Volksgarten, das der Londoner Architekt Terry Pawson erbaute, jene neue Bühne für Szenisches, die bislang fehlte. Ein Fries aus weißen Klaviertasten scheint das geräumige Haus zu krönen. Die vier verschiedenen Fassadenseiten spielen mit verklammerten Mustern aus Streifen oder Fugen. Technisch ist das Musiktheater eines der modernsten Opernhäuser Europas.

Kurz darauf – 2015 – wurde in den Hügeln, auf halbem Weg zum Pöstlingberg, für 850 Studierende der Anton Bruckner Privatuniversität noch ein ähnlich komfortables neues Gebäude errichtet. Musik, Komposition, Tanz und Schauspiel lassen sich hier studieren. Man kommt von der Stadt aus in zehn Minuten mit der Bergbahn hin, die hier das Trambahnnetz teilt. Der Besucher fühlt sich zwischen den Plastiken des grünen Freigeländes ein bisschen wie in Stanford. Die Gartenbänke auf den kleinen Kiesflächen sehen wie Miniaturgebäude aus. Und die diversen Säle klingen täglich – sei es zur Übung oder zum öffentlichen Genuss. Die Architektur der jungen Lokalmatadoren MOD ist meisterhaft das Nadelstreifenmuster, das in Form schräger oder vertikaler weißer Lamellen mit wechselnden Abständen die Fassade umhüllt, nimmt dem Bau die Masse, gibt ihm dafür durch Kipp- und Schwingmetaphern eine sublime Eleganz. Man sieht von da oben die Donau, die Stadt und gar nicht so selten den fast 3000 Meter hohen Dachstein – Oberösterreichs mächtigsten Alpenberg.

Als wäre das kleine Linz eine Weltstadt, sind an manchen Wochenenden zusätzlich zum permanenten Klassiksturm auch noch Superstars des Pop zu Gast: Am 8. Juni waren etwa die Toten Hosen da, tags darauf Bryan Ferry. So was ist hier normal.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.musiktheater.at/

https://www.bruckneruni.at/de/home/

https://www.posthof.at/programm/alles/

Miniserie Le Chalet

  Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: 

Heimlicher Alpenfilm #12

Eine Vendetta in den französischen Bergen. Im fiktiven Dorf Valmoline, das in der Serie zwischen Chambéry und Grenoble angesiedelt wird, urlauben fünf junge Paare in einem frisch renovierten Urlaubs-Chalet. Einige von ihnen kennen es noch als alte Waldhütte – von früher, als sie Kinder waren. Eine alte Geschichte, ein düsteres Geheimnis, wird sie, während ihrer kleinen Atempause von der Hetze des Lebens, einholen.

Es könnte alles so schön sein. Ein Sommer in den Bergen. Das neue alte Haus. Hübsche Leute. Junges Glück. Stattdessen zieht die Vergangenheit ihre schaurige Bilanz. Viele Pläne werden in dem so gut wie ausgestorbenen Dorf zunichte gemacht werden. Jeder der Beteiligten hat irgendeine Verstrickung. Eifersucht, Neid, Gier, Wollust und noch ein paar andere Todsünden sitzen immer mit am Tisch. Dem Geschehen in den sechs, jeweils 50 Minuten langen Episoden der Staffel drückt die DNA eines Psychothrillers den Stempel auf. Und die Savoyer Alpen zimmern den Rahmen, sie dekorieren das Grauen.

Die Dreharbeiten fanden im Sommer 2016 unter anderem in Chamonix statt. Premiere feierte die französische Fernsehserie, eine Eigenproduktion von France 2, im März 2018. Der Streamingdienst Netflix startete dann drei Wochen später international. Die Miniserie unter der Regie von Camille Bordes-Resnais spielt in zwei Zeitlinien, 1997 und 2017. Es gibt ein bisschen zu viele Rückblenden, und nicht alle Charaktere sind individuell genug gezeichnet. Manchmal verliert der Zuseher deshalb etwas die Orientierung, wo und wann er gerade ist. Dass man lange Zeit nicht viel weiß, aber trotzdem gespannt dabei bleibt – das spricht aber für die schöne Anlage und Ausarbeitung des Horror-Plots in sechs Etappen. Und das Unheimlichste ist, dass eigentlich nur Freunde mit dabei sind. Oder doch nicht?

Text: Alexander Hosch

Le Chalet (2017), France 2, französische Fernsehserie, 6 Folgen, 1 Staffel; Erstausstrahlung ab 18. März 2018; aktuell zu sehen auf Netflix

https://www.netflix.com/title/80232914

Zärtlichkeit

                                         Heimlicher Alpenfilm #11

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:

In “La Tendresse” von 2013 (dt. Titel: Zärtlichkeit) trifft ein geschiedenes Paar nach Jahren wieder aufeinander. Aus Anlass einer stundenlangen Autofahrt von Brüssel nach Flaine in die französischen Alpen, wo der gemeinsame Sohn Jack – ein Skilehrer – einen Unfall hatte. Das Drama ist aber gar keines, jedenfalls kein großes. Es breitet sich eher aus wie ein langer, ruhiger Fluß, in dem das Leben ein paar neue Biegungen nimmt, bei denen noch einmal alle dabei sind, die auch am Anfang, quasi an der Quelle, wichtig waren. Niemand stirbt, niemand findet sich wieder. Es gibt also kein Happy end für Lise (Maryline Canto) und Frans (Olivier Gourmet) nach 15 Jahren Trennung. Höchstens für den Sohn Jack und seine Skifahrerfreundin. Doch Frans und Lisa erinnern sich nach und nach daran, warum sie einander einmal geliebt haben. Der Film betont Gemeinsamkeiten und kostbare Erinnerungen, nicht Probleme, Konflikte und Katastrophen, das ist das Seltene und Besondere.

Zu diesem feinen, leisen Bildschirmgemälde einer gescheiterten Familie aus Belgien entblättert sich im Hintergrund allmählich der grandiose Charme der in die Jahre gekommenen Skifahrerstadt Flaine. Die Architekturkulissen der radikalen Beton-City aus den sechziger und siebziger Jahren, die mit ihren mehr als 50 Blocks einst vom Bauhausgenie Marcel Breuer auf über 1600 Meter aus dem Nichts ins Hochgebirge gegossen wurde. Lässig perlen das kühle Mobiliar und die harten Fassadenkanten einer damals wie heute futuristischen Skistation vorbei, eine protzfreie Zone, in deren hippiesken Ski-Hotels und Residenzen sich ganz normale Skigruppen so entspannt treffen wie auch in der Wirklichkeit. Vom orangefarbenen Mondfahrerlift aus blickt man nachts im Film ins dunkle Steinparadies. Tagsüber aber sieht man von den scharf eingeschnittenen Fenstern und Balkonen der Breuer´schen Ferien-Architektur, in der die Protagonisten wohnen, direkt auf die verführerischen Pisten und Schneisen. Fast so als wäre man in einem Stadthotel. Irreal. Auch Jean Dubuffets Meisterskulptur Le Bouqueteau taucht prominent in Marion Hänsels Film auf, eine zebragestreifte Riesenskulptur mitten im Schneeparadies. Sie stellt ein Wäldchen. dar. Mit zwei weiteren Plastiken, von Victor Vasarély und Pablo Picasso, schmückt sie im Film und auch ganz real die wahrscheinlich wertvollste Skizirkusarena der Welt. Das Skitreiben schlägt ästhetisch das Thema an, aber Architektur und Schnee bleiben vor allem die faszinierende Szenerie für das Porträt einer Familienseelenlandschaft. Der Film endet ohne Sensation und so leise, wie er begonnen hat. Aber man ist sehr viel heiterer danach.

Text: Alexander Hosch                                                              

Fotos: Sabine Berthold

(Nur im Architekturmagazin: Unser 10-Seiten-Beitrag über Marcel Breuer & Flaine, “BAUHAUS ON THE ROCKS”, in: AW Architektur & Wohnen Nr. 1/2019)

  DVD “Zärtlichkeit”, ca. 15 Euro

Die Rosskopfgondeln über der Brennerautobahn

#12      Und schon wieder dran vorbei gefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es Sehenswürdigkeiten, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir nehmen uns die Zeit und besuchen sie.

Objekt  Kabinenseilbahn auf den Rosskopf (Monte Cavallo) / Adresse  Alte Brennerpassstraße 12, I-39049 Sterzing (Vipiteno), Südtirol / Koordinaten  N 46° 54′ 54″, O 11° 22′ 59″ /  Bauzeit  1968-2019 /  Bau-Grund  Wer will schon bis  nach Madonna di Campiglio oder Cortina hinter zum Skifahren? / Aktuelle Nutzung Besuchertransport zur Bergstation, zur längsten Rodelbahn Italiens und ins Skigebiet Monte Cavallo (Tageskarte ca. 37-47 Euro); www.rosskopf.com / Betriebszeiten: Anfang Dezember bis Mitte April; Ende Mai bis Anfang Oktober / Schönster Augenblick  Sobald die Skisaison anfängt und die Gondeln die Autobahn queren, herrscht bei Skifahrern am Steuer sofort Serotonin-Alarm.

 

Warum man immer dran vorbeifährt:

Auf dem Heimweg vom Mittelmeerurlaub fürchten Autofahrer nichts mehr als den berüchtigten Brenner-Stau. Kaum einer hat dann das Herz oder die Muße, noch eine letzte Pause einzulegen – obwohl die Rosskopf-Gondeln, die hier malerisch die Fahrbahn kreuzen, im Winter wie im Sommer größtes Vergnügen versprechen…

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss:

Weil man so schnell dort ist! Die definitive Besonderheit im bequemen Kleinstskigebiet Sterzing ist die Landschaft: Man blickt von den Pisten des Monte Cavallo hinab jederzeit Richtung Dolomiten und übers Südliche Wipptal. Auf der nagelneuen 5-Kilometer-Talabfahrt wedeln die Skigäste unter den Sause-Brummis und Bussen durch – um dann, wenn sie wollen, gleich direkt in der Sterzinger Altstadt zum Shoppen abzuschwingen. Das nächste grandiose Alleinstellungsmerkmal der Sterzinger Rosskopfbahn ist, dass sie wahrscheinlich die einzige Alpengondelbahn darstellt, die im Drei-Meter-Abstand eine Autobahn überquert. Die weltweit tätige Seilbahnfirma Leitner hat sie einst gebaut, ein lokaler hidden champion aus dem 1000 Meter hoch gelegenen Städtchen. Das Sterzinger Unternehmen könnte an dieser Stelle auch gut kostenlos eine immerwährende Liftmaschinen-Markenwerbeschau veranstalten – für die vielen Millionen Europäer, die hier jährlich vorbeifahren. Tut es aber nicht. Stattdessen tauschte die Firma jetzt rechtzeitig zur Skisaison 2018/19 die Liftanlagen für die zweite Sektion in Richtung des 2.176 Meter hohen Monte Cavallo aus. Dort fährt nun eine sogenannte Telemixbahn: Kleine Gondeln sind abwechselnd mit 6er-Sesseln eingehängt; die Eltern und die Kinderskischule haben sich das so gewünscht. Die neue Bahn hat einen umweltfreundlichen DirectDrive-Elektromotor – das half bei der Entscheidung.

Wie man hinkommt:  

Bei der Ausfahrt Sterzing die A 22 verlassen und zum Ortseingang, wo wenige Meter unterhalb der Autobahn an der Alten Brennerstraße die Talstation liegt. Parken, Ski anschnallen, los geht’s.

Text und Fotos:  Alexander Hosch

(copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold)

Grafiken:  entdeckt im 3-Sterne-Hotel Rosskopf, www.hotel-rosskopf.it