Der große Giacometti

Alberto Giacometti im Münchner Umland – und dann gleich mit rund 100 Exponaten! Das ist ein ziemlich guter erster Aufschlag, den Annette Vogel, die neue Leiterin des Museums Penzberg, da letzten Freitag gesetzt hat. Man hätte angesichts der Sammlung Campendonk, die dort sonst im Mittelpunkt steht, eher eine expressionistische Beziehungsgeschichte zum Blauen Reiter erwartet. Stattdessen füllen überraschenderweise die dünnen Bronzeskulpturen mit den doppelten Sockeln, einige Gemälde, viele Zeichnungen, Litho- und Fotografien aus den 1930er bis 1960er Jahren die drei verwinkelten Etagen. Der Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti (1901-1966), der mal den Surrealisten, dann wieder mehr den Existenzialisten nahestand, hat sie alle geschaffen. In Paris, wo er fünf Jahrzehnte sein Atelier hatte. Und der Sammler Helmut Klewan, einst Galerist in Wien und München, in Penzberg jetzt der einzige Leihgeber, hat diese Schätze früh für sich erworben. In der Tat ist Giacomettti heute einer der berühmtesten und teuersten Künstler des 20. Jahrhunderts.

Nicht vergessen werden darf, dass hier auch ein Gruß von den südlichen Alpen an die nördlichen Voralpen ergeht: Giacometti (li. mit seiner Mutter)  wuchs als Spross einer Künstlerfamilie im Graubündner Hochtal Bergell auf. Seine Arbeiten bleiben nun einen Sommer lang im bayerischen Oberland: Unter den breiten Schultern der 1801 Meter hohen Benediktenwand.

Text und Fotos:   Alexander Hosch

Ausstellung „Alberto Giacometti – Mensch und Raum – Aus der Sammlung Klewan“ / Museum Penzberg Sammlung Campendonk / Bis 8. Oktober 2023, Di-So 10-17 Uhr  / museum-penzberg.de  . – Aus München braucht man über die Autobahn 45 Minuten. Die Bahn fährt stündlich. Der Fußweg vom Bahnhof zum Museum dauert 10 Minuten.

Endlich: Münchner Denkmal für Snowden!

Übertrieben wäre es, in diesen feucht-trüben Tagen davon zu schwärmen, dass auch hinter unserer neuesten Trouvaille wieder fern und klar die bayerischen Alpen aufragen. Aber von der überraschendsten Münchner Kunstausstellung des Jahres können wir berichten! Denn ein französischer Street Artist namens Invader hat gerade 18 Bilder im Stadtbild hinterlassen. Darunter: Ein aus fast 2000 bunten Mosaikfliesen gelegtes Konterfei des amerikanischen Publizisten und Whistleblowers Edward Snowden. Nur ein paar Meter vom Viktualienmarkt entfernt applizierte der Pariser Künstler das 2,60 mal 2,10 Meter große Pixelportrait Snowdens an eine Schulhauswand. Beinahe in Steinwurfweite der Staatskanzlei.

Der um die Demokratie besorgte Snowden hatte 2013 Dokumente des US-Geheimdienstes NSA geleakt, aus denen hervorging, dass die Ami-Spitzel praktisch die ganze Welt aushorchen, wie es ihnen gerade passt – auch das Handy der Bundeskanzlerin. Weil seitdem aber nicht die NSA von der Justiz der Vereinigten Staaten verfolgt wird, sondern Snowden, muss dieser in Russland ein qualitativ schwer einzuschätzendes, nunmehr schon fast zehn Jahre dauerndes Lebens-Intermezzo von Putins Gnaden fristen. In Amerika droht ihm lebenslange Haft. Trotz seines Einsatzes für die Freiheitsrechte auch deutscher Menschen taten die Politiker der damaligen Groko wie auch die der aktuellen Ampel seither für Edward Snowden: Exakt gar nichts.

Wie schön, dass nun aber offenbar ein großer und weiser Kopf dieses Monument zum 10-jährigen Leakjubiläum, das neue Münchner Mahnmal, bei Invader bestellt hat! Ach, das waren gar nicht unsere Politiker? Wie zu hören ist, initiierte der nach Banksy bekannteste Street Artist die Aktion in München selbst – incognito und ohne Auftrag oder Erlaubnis. Der Künstler, der seit fast 30 Jahren guerillamäßig die Großstädte der Welt bereist und mit seinen verpixelten frühen Computerwesen bestückt, hat nun lauter Werke ins Stadtbild gezaubert, die kongenial mit dem Genius Loci spielen: Brezn und Münchner Kindl am Sendlinger Tor. Pac-Man, der sich eine Mass Bier schnappt, an der Fassade des Lindwurmstüberl. Ein Regenbogen an der Thalkirchnerstraße. Ein „Brezen-Invader“ am Partyschiff Alte Utting. Motive an einem Blumenstand des Viktualienmarkts, im Westend und rund um die Donnersberger Brücke.

Vermutlich in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag sei Invader in München gewesen, mutmaßt das Bayerische Fernsehen. Anfang Mai habe der Mann, der sich einst nach dem Achtzigerjahre-Computerspiel „Space Invader“ benannte, dann mit Spezialkleber seinen Snowden auf die Hauswand am Altstadtring aufgetragen, brachte die FAZ in Erfahrung. Wie dem auch sei. Wir halten diese sympathische Disruption für die beste Münchner Kunst-Idee seit langem. Man könnte jetzt doch einfach aus der Situation Gewinn ziehen und das geschenkte Bild zum Beispiel nächste Woche feierlich als Denkmal für die Demokratie enthüllen.

Wir sind jedenfalls schon gespannt, wie die bekanntesten Freiheitskämpfer aus der bayerischen Politik pünktlich zum beginnenden Wahlkampf mit dem Mosaik, das ja jetzt nun mal einfach da ist, umgehen. Zwar ist Edward Snowdens Fliesenkonterfei, übrigens auch eine nicht ganz unvirtuose Handwerkskunst, inzwischen von einem Werbeplakat verdeckt worden. Die Veranstaltung ist aber schon vorbei. Den Lappen kann man also ohne Schaden wieder abmachen. Und so dem Hauptwerk der zur Zeit besten und wichtigsten Münchner Kunstausstellung den Platz einräumen, den es verdient.

Text und Fotos:    Alexander Hosch

Brezen-Motiv von Invader am Aufgang zur Alten Utting. Foto: Sabine Berthold

Die perfekte Welle von Nizza

#14                   Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es tolle neue und alte Architekturen, die jeder zu kennen glaubt. Obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht. 

Objekt Allianz Riviera Stadion / Ort Boulevard des Jardiniers, F-06200  Nizza / Koordinaten N 43° 42´ 18,3´´, O 7° 11´ 33,5´´ / Bauzeit 2011-2013 / Bau-Grund Fußball-EM 2016 / Aktuelle Nutzung Fußballstadion des OGC Nice, Rugbystadion des RC Toulon & Sportmuseum Musée nationale du sport / Öffnungszeiten …siehe Museumswebsite – sonst nur zu Spielen, Konzerten und den 75-minütigen Führungen, www.ogcnice.com; www.museedusport.fr / Schönster Augenblick  Ständig (nach dem Spiel ist vor dem Spiel)

Warum man immer dran vorbeifährt:  Die Sonne scheint. Man hat die Skischuhe an. Und der Ski-Bus, der einen zu den Liften der sonnenüberfluteten Frühlingshänge von Isola 2000 in den Südalpen bringen soll, will am surreal vorbeiwischenden Stadion einfach nicht anhalten. Obwohl der Fahrer schon seit einer Minute von allen Seiten gerüttelt und geschüttelt wird …

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss:  Um zu verstehen, wie so ein klimaneutrales Stadion für 35.000 Menschen funktioniert. Die Arena von Nizza liegt in einem ausgewiesenen Ökogebiet, dem sogenannten Eco Vallée. Man kann es sehr einfach auch ohne Auto erreichen. Die 4000 Solarplatten auf dem Dach erzeugen mehr sauberen Strom als das Stadion von Architekt Jean-Michel Wilmotte selbst verbraucht. Der Hybridbau aus Stahl, Holz und Beton schafft mit diversen Umweltgimmicks sogar Plusenergiestandard. Und im integrierten nationalen Sportmuseum, das ein bisschen wie „unters Stadion geschoben“ aussieht, gibt es sogar eigene Programme für Babys und für Kleinkinder. Momentan und noch den ganzen Sommer über bereitet die zusammen mit dem Louvre erarbeitete Schau „Victoires“ die Besucher schon auf die Olympiade 2024 in Paris vor.

Die transluzenten ETFE-Module der Fassade erinnern übrigens ein wenig an die Münchner Allianz Arena von Herzog & de Meuron, die den selben Sponsor hat. In Nizza sind die einzelnen Kunststoffpaneele aber nicht wie Rauten geformt. Und alle zusammen sehen dort wie eine riesige Welle aus Schaum und Wasser aus. Naja, dieses Stadion wogt ja auch quasi direkt neben dem Mittelmeer.

Wie man hinkommt: Die Arena liegt supernah am Flughafen Nizza. Aus der Stadt fahren Busse und Trams hin, aus den nahen Strandorten Züge.

copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold

 

Gesicht der Erinnerung

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm #22

Was ist, wenn die Menschen, die man zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben liebt, eigentlich immer ein und dieselbe Person sind? Das fragt sich die Hauptdarstellerin von Dominik Grafs Fernsehfilm Gesicht der Erinnerung. Manches darin erinnert an die Totenwelt-Psychologie in Alfred Hitchcocks Vertigo, anderes an Krzysztof Kieslowskis Drei-Farben-Trilogie. Zeiten verschwimmen, Menschen auch. Szenen von jetzt – wie eine ganz normale Autofahrt – werden zu Flashbacks.

Christina (großartig: Verena Altenberger) hatte mit 16 Jahren eine große Liebe, den verheirateten Jacob (Florian Stetter), der bei einem Unfall stirbt, den sie seither aber immer wieder sucht. Neuanfänge werden zu Déjà-vues für sie, Christina verfängt sich zwischen Alkohol, Tabletten, Vorstellungen und Verzweiflung. Nun, 20 Jahre später, scheint sie auf Jacobs Wiedergänger zu treffen: in der Gestalt des jungen Patrick (Alessandro Schuster), der sie nachts mit seinem Auto vor einem Gewitter rettet. Tabula rasa – ein Schluss mit dem Gestern! – wäre wohl die Rettung für Christina. Aber das scheint unmöglich. Alles – Worte, Taten, Gesten, Andeutungen, Merkmale von Sprache und Charakter – führt sie geradewegs in eine Zukunft, die die Vergangenheit ist.

Der 89-Minüter wurde vergangenen Juni in der Sektion Neues Deutsches Fernsehen auf dem Filmfest München uraufgeführt und Anfang 2023 schon in der ARD gezeigt. Wie es dem Filmregisseur Dominik Graf bei TV-Ausflügen immer wieder gelingt, biederen deutschen Sonntagabend-Fernsehroutinen zu entfliehen, etwa in seinen Tatort– oder Polizeiruf-Folgen, ist großer Genuss. Auch hier. Alte Verhängnisse und neue Vermutungen übernehmen schnell das Zepter. Die eigentliche Handlung bleibt ein sanfter Strom im Hintergrund. Und Verena Altenberger, die schon ein paar Mal Grafs Polizeiruf-Kommissarin war, irrlichtert dazwischen. Mit klarem Blick, aber mit unklarem Sinn.

Das eindrückliche Mystery-Spiel läuft vor der Silhouette Salzburgs ab, das neben dem nahen Sankt Johann im Pongau und einzelnen Berglandschaften seinen Platz als charmante Alpenhauptstadt einnimmt. Ein paradiesischer Sommerwald spielt eine Rolle. Eine Schlucht und ein kleines Bergdorf in Italien werden spät ein kurzes, zweites Zentrum dieser paranormalen Filmstory. Drehorte dafür hatte man natürlich rund um die Salzachstadt genug, man fand sie daneben aber auch in Bayern und Tirol. Der Zuschauer fühlt sich definitiv immer wieder mehr an alte Autorenfilme erinnert als an aktuelle Beziehungsdramen, und das ist sehr gut so. Oder an die Romane von Max Frisch, in denen oft Menschen von früher in Leuten von später auftauchen oder aufzutauchen scheinen. Bis die Personen durch das raffinierte Identitätswirrwarr restlos im Nebel zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwunden sind. Die Realität ist eben auch nur ein Vorstellung.

Text:  Alexander Hosch

Gesicht der Erinnerung von Dominik Graf, 2022. Die Produktion des SWR mit dem Österreichischen Rundfunk für das Erste ist bis 8. Mai in der ARD-Mediathek abrufbar. Bis 12. Februar 2024 läuft sie als Angebot des Digitalprogramms One. 

https://www.ardmediathek.de/video/filmmittwoch-im-ersten/gesicht-der-erinnerung/das-erste/

Schwarz wie Schnee

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm #21

Die Landschaft ist tiefgekühlt. Es schneit dicht. Die Kamera der Anfangssequenz zieht einen eleganten Schwenk über Fluss, Felsen, Schnee. Und landet dann mitten in der weißen Wüste auf dem erfrorenen Gesicht einer Frau. Sie schlägt die Augen auf.

Schlussszene aus dem Film: Das Ermittlerduo Andreas und Constance im tiefen Schnee.

Tod oder Täuschung im französischen Winter? Ein doppelbödiger Film beginnt. Bald geht es um Serienmorde. Da strömen im Geist doch gleich purpurne Flüsse durch die weiße Pracht. Doch die Lage ist anders als für die Schauspieler Jean Reno und Vincent Cassel damals, die im Kassenschlager des Jahres 2000 zwischen Albertville und Grenoble unterwegs waren, also rund 150 Kilometer südlich. Diesmal schwirren die französische Polizistin Constance (Clémentine Poidatz) und ihr Schweizer Kollege Andreas (Laurent Gerra) durch das Grenzgebiet hoch über dem Genfer See. Unmotiviert bis unwillig beginnen sie ihre gemeinsamen Ermittlungen im Nebel und im Schneegestöber. In den eisigen Höhen eines der beliebtesten Skigebiete zwischen Wallis und Haute Savoie wird zuerst die Leiche eines Jugendlichen mit 4 Promille im Blut gefunden, dann werden noch weitere Opfer geborgen. Hängen die Taten zusammen? Sind sie in der gleichen Nacht geschehen? Aus demselben Grund? Bald wird klar: Die Sache hat mit einem Skiteam zu tun, das vor 20 Jahren den Nationalkader bildete. Auch Constances verschollene Schwester gehörte ihm an.

Offenbar schlägt die Vergangenheit jetzt neue Wunden. Aber ist der Mörder nun ein durchgeknallter Tourist? Oder doch ein alter Bekannter? Constance und Andreas pflügen in Eric Valettes Thriller von 2021 mit Schneemobilen, Schlittenhunden, Seilen und Steigeisen durch die Hochebenen und über die Klippen. Ansonsten stochern sie lange im Nebel. Die an sich sonnenverwöhnten Skistationen der Portes du Soleil liegen still, düster und grau. Zwei Drehorte waren das traditionelle Dorf Morzine und das futuristische, vom Pariser Architekten Jacques Labro erbaute Avoriaz auf 1800 Metern, beides prominente Skiresorts.

Doch ist dies weder ein Architektur- noch ein Bergfilm. Auch kein Skifahrerfilm. Vielmehr ein atemberaubendes Rachedrama. Die Energien von einst und heute treffen sich wie in einer Schneekugel, sie bilden Kristalle, kein Molekül kann rein oder raus. Und Constance muss Spuren suchen, ob sie will oder nicht. Welche Rolle spielen der Bürgermeister, der Immobilienzar, der korrupte Umweltschützer? Warum stolpern sie und Andreas über ein Absinthversteck und die gefälschten Schadstoffprognosen eines projektierten Wasserparks? Wieso ist die Kältekammer des abgewrackten Fitnessstudios so perfekt intakt? Die Filmerzählung ist sehr schön spannend – und psychologisch solide konstruiert. Langsam schält sich die schreckliche Wahrheit aus dem Plot. Und die Ästhetik baut auf die Bildermacht der krassesten Steilhänge und Felsgründe. Wer von Morzine per Seilbahn mal selbst ins autofreie Avoriaz hinauffährt (was hiermit empfohlen wird), kann diese besondere Landschaft, unweit des Mont Blanc, jeden Winter in ihrer ganzen Dramatik erleben. Das hat der Regisseur natürlich ausgenützt.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

Schwarz wie Schnee, 2021, 85 Minuten, Verleih: Atlas Film Home Entertainment, DVD / Blue Ray ab 12,99 Euro; Streaming wird auf wechselnden Plattformen angeboten.

 

Und schaut doch bitte – nach dem Lesen – noch zu unserem hier verlinkten heimlichen Alpenfilm #7:

https://www.alpine-kultur.com/die-purpurnen-fluesse-2000/

 

Wunschglocke und Himmelsschaukel

Skifahren ist eine extrem sinnliche Angelegenheit. Das weiß jeder, der schon mal bei Sonne durch den unberührten Schnee gekurvt ist. In Zeiten von unsicheren Schneelagen müssen dennoch neue Ideen und Vergnügen dazukommen. Das Sterzinger Familienskigebiet am Rosskopf zum Beispiel schafft es gerade mit einer formidablen Glocke, die kleine und große Besucher mit Weitblick über die Dolomitengipfel anschlagen dürfen, so einen Thrill zu erzeugen. Ein Herzenswunsch soll dabei für jeden der Glöckner, die auf über 2000 Höhenmetern walten, in Erfüllung gehen… Und gleich neben der Glocke hängt eine Himmelsschaukel. Auf sanfte Weise verschafft sie da oben fast so viel Spaß wie eine Achterbahnfahrt. Danach geht´s wieder auf die Piste.

Skiurlaub am Monte Cavallo, wie der Rosskopf in Italien heißt, ist anders. Warum? Weil hier keine Champions League des Wintertourismus ausgetragen wird. Höher, schneller, weiter – das findet anderswo statt. Die kleine Stadt Sterzing hat viel individuellere Vorzüge: Hier quert die Kabinenbahn – ein Alleinstellungsmerkmal, das fast jeder Europäer von einem Italienurlaub kennt – die Brennerautobahn. Sehr romantisch und charmant. Weil Sterzing fast 1000 Meter hoch liegt und damit als eine der höchsten Städte Italiens gilt, lässt sich die erst 2018 angelegte Talabfahrt praktischerweise gut mit einem Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone der alten Fuggerstadt abschließen. 
Zwölferturm, Rathaus und freskengeschmückte Kirche warten mit mehr als 1000 Jahren Geschichte auf, Alt- und Neustadt mit zahllosen Geschäften. Und mit traditionellen Wirtshäusern, die Spinatknödel, Schüttelbrot-Gnocchi und 
Schlutzkrapfen servieren. Weil Sterzing nur 15 Kilometer unterhalb des Brenners, also supernah an Österreich liegt, stürmten zu Coronazeiten zehntausende Lockdown-geschädigte Österreicher dort den nördlichsten Weihnachtsmarkt im Nachbarland.

Die jüngste Attraktion ist aber die gerade erst am letzten Wochenende eingeweihte 10-er-Gondelbahn zum Rosskopf. Samt neuer Stationen für Berg und Tal. Blitzgeschwind und blitzgescheit nutzten die Betreiber unerwartet angebotene Coronamittel, um den erst für 2027 geplanten Bahnaustausch vorzuziehen. Die aktuelle Superseilbahn erreicht den Gipfel natürlich schneller als das 35 Jahre alte Vorgängermodell. Sie ist auch viel bequemer, ein Vorzeigeprodukt der lokalen Gondelbaufirma Leitner, eines Unternehmens mit weltweit 5000 Beschäftigten. 

Lohnt sich so eine Investititon in Sterzing überhaupt? Ja, weil das Skigebiet so hoch liegt und der Rosskopf mit der verkehrsgünstigen Lage sommers wie winters als Top-Freizeitziel gilt. Sterzing hat jedes Jahr 1,3 Millionen Übernachtungen. Vergangenen Monat konnte der Ausrüster in der neuen Talstation gleich an mehreren Tagen alle seine tausend Leihschlitten an die Leute bringen. Denn über Sterzing gibt es auch die mit zehn Pistenkilometern längste beleuchtete Rodelbahn Italiens. Freitags ist das Nachtrodeln sogar bis Mitternacht möglich. 

Also doch noch ein Superlativ. Ruhig und entspannt bleiben die Ferien rund um Sterzing trotzdem. Ob Gast und Gästin einen Langlauftag in den Loipen des stillen Pfitschtales einlegen, wo bei St. Jakob der weitläufige Talschluss nur mit wenigen anderen Sportlern geteilt werden muss. Ob sie in der schicken Bar des Restaurants Stern auf ihre Mountain-Chalet-Ferien dort oben anstoßen. Oder ob sie im Hotel Engels Park eine der neuen Fugger-Suiten ausprobieren, die zusammen mit einem Saunareich aus altem Holz und viel Glas samt „Kräuternest“ und Kaminraum in einem großen Park liegen und so das frühere Hotel Zum Engel in unsere Zeit gebeamt haben. In Sterzing sind snow holidays immer auch slow holidays.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Tageskarte für Erwachsene ab 47 Euro; www.rosskopf.com

Hotel Engels Park, z.B. Junior Suite für 1 Nacht, ca. 200-240 Euro; www.engelspark.it

Gasthaus Schaurhof in Ried, www.schaurhof.it

Restaurant Graushof in Afens, www.graushof.com

Sternhütte, www.stern.one

Bitte lest auch unsere Story #12, Rubrik Straßenrandperlen (2019): 

https://www.alpine-kultur.com/die-rosskopfgondeln-ueber-der-brennerautobahn/

Das Netz – Prometheus (Serie, 2022)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm  #19

Russland, Katar, China – immer öfter werden wichtige Wettbewerbe des internationalen Sports und vor allem des Fußballs von Diktaturen bezahlt, bestimmt oder ausgerichtet. Manchmal sogar alles zusammen. Die entscheidenden Bürostätten der internationalen Kickergemeinschaft dagegen finden sich in der Regel an gemütlichen Orten im sicheren Europa. Am liebsten mitten in den Alpen.

Der Weltfußballverband Fifa etwa. Dessen lichte neue Zentrale liegt auf hehren Höhen in Zürich. Mit majestätischer Weitsicht auf die steinernen Riesen der Schweiz. Und die Uefa, die Union der europäischen Fußballverbände: Sie sitzt in Nyon am Genfer See. Da leuchten vom anderen Ufer täglich Mont Blanc und Co herüber, also Europas absolute Gipfelavantgarde. Beide Orte kommen jetzt in der aktuellen österreichischen Serie „Prometheus“ vor, die rechtzeitig zur Fifa-WM 2022 – als Teil des internationalen TV-Projekts Das Netz – in dieser Woche ausgestrahlt wird. Hinter geparkten Autos und aussteigenden Schauspielern sind sie manchmal als Kulisse zu sehen. Auch die Vedute von Salzburg bekommt einige grandiose Bildschirmmomente.

Der mit Abstand wichtigste alpine Drehort in dieser Serie heißt jedoch Bad Gastein. Der österreichische Darsteller-Superstar Tobias Moretti durchschreitet dort als Chefarzt Georg Trotter acht Folgen lang eine Hochleistungs-Sportklinik. Trotter – früher Fußballprofi, dann als Arzt und „Bluthund“ der Dopingfahndung zur gefürchteten Berühmtheit geworden – zieht aus Nordengland in eine Villa im Salzburger Land. In Spiegelung der allgegenwärtigen Korruption im realen Fußball geht es um Geld, Macht, Manipulation, Aufputschmittel, junge Supertalente und ihre genetische Optimierung. Ein neues Enzym soll den jugendlichen Athleten Wunderkräfte verleihen – und nebenbei den greisen Gremiensportlern der Verbände das ewige Leben gewähren.

Die Postkartenidylle des k.u.k.-Kurbads im Gasteiner Tal ist – neben Liverpool – das hochästhetische zweite Zentrum der Story. Hier geht man schon von Natur aus permanent auf- oder abwärts. Ein für das Thema Vitalität also äußerst glaubwürdiger Ort im Talschluss, gesegnet mit Bädern und Heilquellen, in denen etwa Kaiserin Sisi unzählige Male aufgepäppelt wurde. Regisseur Andreas Prochaska („Das Boot“, „Das finstere Tal“ und „Alex Rider“ vergleiche Alpine Kultur, heimlicher Alpenfilm #18), verlegte das TV-Hospital hinter die denkmalgeschützte Monumentalfassade des ehemaligen Grand Hotel de l´Europe. Diese 115 Jahre alte Immobilie versprüht nach jahrelangem Leerstand heute auch in der Realität wieder auf einigen der zehn Etagen echtes Leben, mit Bars, Restaurants und Luxusapartments. Wenigstens in den Skiwintern.

Moretti alias Trotter trifft in der fiktiven Hightechklinik auf eine vollendet skrupellose Personnage rund um die Wissenschaftlerin Edmunda (Agata Buzek). Und kommt sich bald wie Goethes Zauberlehrling vor, weil erschreckend viele Mit-Chefs statt ihm selbst bestimmen, was in dem Krankenhaus passiert und was nicht. Wer verfolgt hier welches Ziel? Ein teuflisches Vabanquespiel nimmt seinen Lauf. Die Berge bleiben im Hintergrund – und spielen doch ihre große Rolle. Als heimliche Traumwelt, als vitaminöser Gegenentwurf zum mafiösen Fußballuniversum. Aus diesem Gefälle zwischen Idylle und Grauen bezieht die Serie ihren Thrill. Ganz wie die Wirklichkeit.

Text: Alexander Hosch

Das Netz – Prometheus; Regie Andreas Prochaska (Folgen 1-4) und sein Sohn Daniel (Folgen 5-8); mit zwei anderen Serien verzahnte Co-Koproduktion von MR-Film sowie ServusTV, ARD Degeto und Netz GmbH. Acht Folgen à 45 Minuten. Sofort in der ARD-Mediathek; TV-Ausstrahlung der ersten vier Folgen am 17. November (ARD), Teil fünf bis acht am 19. November, jeweils ab 20:15 Uhr.

Illustre Illusion

     In diesem Bild voller Bilder residieren links oben zwei Tänzerinnen, gemalt 1914 von Ernst Ludwig Kirchner. Rechts davon strahlt August Mackes Große Promenade aus dem selben Jahr. Gleich daneben, zu sehen nur im kleineren Bildausschnitt unten, scheint Pablo Picassos fast futuristische schwarze Frauenkopfskulptur von 1909 auf. Das eigentliche Gemälde hier aber ist von Karin Kneffel, es stammt aus dem Jahr 2022. Die beiden über hundert Jahre alten Vorbilder leuchten zwar in allen Farben, wohnen aber wie der Picassokopf nur als Kulissen neben den matt gepinselten Flechtsessel des Franz Marc Museums. Sie alle werden von einer dritten „Folie“ in den Hintergrund gedrängt: Von der virtuosen Illusion einer Glasfläche nämlich, auf der sich grandios und zentral die Spiegelungen der Bäume und der Scheibengucker draußen materialisieren. So vielschichtig ist Karin Kneffels Malerei, die zur Zeit – siehe links – ganz real unter den schlauchbootgroßen Hängeleuchten im von ihr auf mehreren Leinwänden dargestellten Franz Marc Museum in Kochel am See zu Gast weilt. Dort zu sehen: 30 meist großformatige Ölgemälde auf zwei Etagen, alle mit Bildern, Unter-Bildern und Über-Bildern. Sie werden durch die riesigen Panoramafenster überall von grandiosen Naturausblicken in die bayerische Voralpenlandschaft gerahmt.

      Vor 50 Jahren gab es schon den brillanten Amerikaner Chuck Close, und damals bewunderten die Leute auch bereits die Geniestreiche von Gerhard Richter. Wie aber können Künstler:innen heutzutage noch etwas Wichtiges zu Kunst und Technik des Fotorealismus beitragen? Karin Kneffel gelingt das. Mit Tricks, Fabrikationen, Täuschungen, Spiegelungen. Es sind kleine Lügen und verdeckte Wahrheiten mit Ansage. Illusionistische Kabinettstückchen, die mit viel Arbeitsfleiß und extremer Genauigkeit von ihr zuerst nach Fotos perfekt realistisch gemalt und dann mehrfach verfremdet werden. Die ehemalige Meisterschülerin von Gerhard Richter ist längst selbst Professorin an der Münchner Kunstakademie. Ein großer Spaß, wenn sie Richters berühmte „Betty“ in eigenen Werken abbildet (wie in Kochel zu sehen), einige ihrer Studenten davor drapiert, im Vordergrund aber eine „Glasscheibe“ hinzu erfindet, deren angelaufene Stellen jemand mit der Hand saubergewischt hat, um von draußen in den Museumsraum schauen zu können. Mit solchen Kniffen hält Kneffel die Ausstellungsbesucher auf Distanz zu ihren Motiven und zu den Bildräumen, die sie malt. Man soll alles betrachten, aber nicht darin versinken, sagt sie: Ins Riesenhafte vergrößerte goldene Wassertropfen oder schnell per Wischfinger gezeichnete Smileys auf der imaginären Scheibe, von der Putzkolonne eingeschäumte Fenster. Im Filmbeitrag in der Ausstellung erklärt die
Malerin anschaulich ihre Arbeitsweise. Die an sich schon tolle Schau wird weiter veredelt durch etwa 15 kubistische und expressionistische Originale der Moderne. Es sind exakt diejenigen, die Kneffel en miniature in ihre Bilder integriert hat: Einige Chagalls, Kandinskys, Kokoschkas, Klees, Picassos, Kirchners et cetera hängen und stehen also in Kochel gerade eins zu eins daneben. Und das ist dann keine Illusion.

Text und Fotos:  Alexander Hosch  

Karin Kneffel. Im Bild – Franz Marc Museum, Kochel am See, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, www.franz-marc-museum.de, bis 3. Oktober 2022

(Vom Münchner Hauptbahnhof fährt stündlich die Werdenfelsbahn. Zur Zeit Schienenersatzverkehr ab Seeshaupt am Starnberger See.)

 

Brutal schön

Kommt mir bloß nicht zu nah! – Günther Domenigs Steinhaus am Ossiacher See, Bauzeit 1983-2008.

Weiterbauen in den Alpen. Was das heißen kann, lässt manchem aktuell wieder die Haare zu Berge stehen. Jodeldidumpfdideldei. Viele sind deshalb mehr als froh, dass es neben den Heerscharen von schief gewickelten Traditionalisten (und einigen guten) auch noch alpine Architekten wie Günther Domenig gab, der von sich sagte: „Ein Bauherr, der mich einmal hatte, nimmt mich nie wieder.“ Schon speziell. Und irgendwie logisch, dass die wichtigste private Baustelle sein eigenes Haus in Kärnten wurde. Das Steinhaus am Ossiacher See.

Vor genau zehn Jahren starb der große Österreicher. Kann uns seine Architektur in einer Zeit der nachhaltigen, kostengünstigen, emissionsfreien Bauwerke noch viel sagen? Schwierig. Heute geht es ja eher um die Abkehr von einem superambitiösen Stil. Und neue Häuser sollten am besten gleich aus dem 3-D-Drucker herausfallen.

Wie ein Großmeister einer Geheimloge bat Günther Domenig 2004 zum Interview in eine der Glas-Stahl-Beton-Kanzeln seines futuristischen „Steinhaus“.

Was Domenig damals in seinem Steinhaus im Interview für AD Architectural Digest zu mir sagte, war bezeichnend für ihn: Kommt mir bloß nicht mit Normalität! Sein Stil war ultraindividuell und – auf sympathische und künstlerische Weise – maßlos. Er suchte perfekte Lösungen, die deshalb auch meist ziemlich teuer waren. Genau so wie das Steinhaus am Ufer des Ossiacher Sees, das er für sich selbst auf dem elterlichen Grundstück erbaute. Immer wenn nach einem Architekturauftrag seiner großen Büros in Graz und Wien Geld übrig war, fügte er dem Wohnhaus eine neue Kanzel aus Stahl oder einen Raum aus Glas und Beton an. Von 1982 bis 2008 werkelte er immer daran weiter und setzte – wie er in dem Interview sagte – mit diesem avantgardistischen Bau seine Kindheitserinnerungen an das Gebirge des Mölltals architektonisch um. Das Steinhaus verschlang über die Jahre gewiss Millionen. Unzählige Wochenenden verbrachte Domenig hier.

Heute sind Beton und Stahl alles andere als die Baustoffe der Stunde. Und das Formeninventar des Dekonstruktivismus, dem Domenig ein Leben lang anhing, entwickelte seine Verrücktheiten vor 20 bis 40 Jahren – gedanklich kilometerweit entfernt von der Ratio unserer effektiven Zeit. Auf Domenig bezieht sich heute aber etwa gern Ben van Berkel von UN Studio, der selbst in Graz gebaut hat. Er bewundert die skulpturale Eleganz der Grazer Schule und die ideelle Komponente der Schöpfungen.

Domenigs eigene Büros waren voller Zeichnungen der Wiener Aktionisten  – vor allem von Günter Brus. Dessen oft figurative, überbordene, phantasmagorische Bilder dürften maßgeblich für den 1934 geborenen Architekten gewesen sein – so wie die expressionistischen Ideen des Vorgängers Friedrich Kiesler oder die Utopien von Zeitgenossen wie Friedrich St. Florian, Feuerstein, Haus-Rucker Co, Raimund Abraham. Um 2000 setzte Domenigs große, erfahrene Firma einige Werke der nun weltberühmten Wiener Kollegen coop Himmelblau technisch um.

Auf den ersten Blick erscheint die Kunst- und Architekturlandschaft des Steinhauses an trüben Tagen leicht wie eine Materialmusterwand im Baumarkt. Aber aus der Nähe betrachtet wird sofort ein Gesamtkunstwerk draus.

Zu Domenigs bekanntesten Werken gehören neben dem brutalistischen Steinhaus das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, das Telekom-Center in Wien und die ehemalige Zentralsparkasse in Wien-Favoriten (heute: Haus Z) mit der charismatischen Knautschfassade sowie „Händen“ und „Därmen“ als Stützen oder Röhren.

Text und Fotos:  Alexander Hosch

Zu Domenigs zehntem Todestag beginnen in Österreich Mitte Juni vier Ausstellungen. unter einem gemeinsamen Titel. „Günther Domenig: Von Gebäuden und Gebilden. Dimensional“ ist ein mehrteiliges Projekt des Architektur Haus Kärnten (AHK), gemeinsam mit dem Land Kärnten, dem Museum Moderner Kunst Kärnten, der Steinhaus Günther Domenig Privatstiftung und der Heft/ Hüttenberg, kuratiert von section a. Die Hauptschau (bis 16. 10., Di-So 10-18 Uhr) ist im alten Eisenhüttenwerk Heft im steirischen Hüttenberg, das Domenig als Industriedenkmal umbaute.

www.domenigdimensional.at

Zeichen aus dem Allgäu

Das Erscheinungsbild von Olympia 1972: Wenn das gestalterische Wirken von Otl Aicher (1922-91) auch viel umfassender ist – selbst Laien wird mit diesem Highlight klar, wie sehr er für jedermann sichtbar in den Alltag hineinwirkte. Aicher, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern würde, während der Olympiade-Termin in München sich zum 50. Mal jährt, wird jetzt in Ausstellungen und Büchern neu vermessen.

Davor hatte Aicher in den 1950-er Jahren schon die Hochschule für Gestaltung in Ulm mitgegründet, deren Lehrer und Rektor er später wurde, sowie zahlreiche Firmen wie Erco, Bulthaup, Lufthansa und Braun als Gestalter beraten und mit einer Corporate Identity versehen – damals ein völlig neuer Begriff. Nach der Sommerolympiade 1972, deren vielfarbig gestreifter Waldi bis heute noch höchst lebendig als eine Art zusätzliches München Wahrzeichen existiert, zog es den Ulmer Otl Aicher in die Allgäuer Voralpen. In der Zurückgezogenheit mit stetem Blick auf die Berge entstand 1987 die Schriftfamilie Rotis. Sie ist Aichers einzige kommerzielle Schrift, deren schlichte Noblesse an die Schriften des Bauhauses anknüpfte. Sie sah sowohl mit wie auch ohne Serifen gnadenlos gut aus. Aicher hatte ein neues Leseverhalten ausgemacht und dafür eine Form gefunden.

Kaum beachtet ist bis jetzt, wie sehr sich Aicher im Allgäu auch architektonisch verwirklichte: Früh entwickelte er einen Sinn für Einfachheit, für Minimalismus und ein Leben mit der Natur, wie es heute für sehr viele Menschen ein Ideal ist. Im kleinen Ort Rotis bei Leutkirch – zwischen Memmingen und Wangen – kaufte er damals ein vier Hektar großes Grundstück und baute zwischen 1972 und 1976 rund um eine alte Mühle, ein steinernes Wohnhaus und einen Stall neue, teilweise aufgeständerte Atelierhäuser und Werkstätten aus Holz für sich, seine Familie und Mitarbeiter aus den Welten Fotografie, Typografie, Druckerei und Design.

„Rotis ist wie ein kleiner Campus, den man in die wunderschöne Landschaft von Schwaben gesetzt hat“, lobte der weltberühmte Architekt Lord Norman Foster, der mit ihm befreundet war, die Atmosphäre in Aichers kleinem Bau-Vermächtnis. Aichers Schreibtisch stand inmitten des Großraumbüros, er war immer zwischen allen anderen – streng und lustig, wie es heißt. In der sogenannten „Rotisserie“, dem ehemaligen Kuhstall, hat man zusammen gegessen. Oft wurden Sitzungen ins Freie verlegt.

Die aktuelle kleine, feine Münchner Schau „Otl Aicher 100“ im Pavillon 333 passt bestens zu Aichers Konzepten. Auch die Studenten der TU-Lehrstühle von Hermann Kaufmann und Florian Nagler haben 2021 in ihrer Architektur für das hölzerne, von einer durchsichtigen Polycarbonathülle und einem Textilvorhang umgebene Bauwerk zeitgemäße Zielsetzungen der Angemessenheit, Natürlich- und Zweckmäßigkeit verinnerlicht. Direkt vor der Pinakothek der Moderne kann man sich in der Türkenstraße noch bis 28. Mai einen Eindruck davon machen: Der Pavillon ist vorübergehend mit orangen Schalensitzen ausgestattet, die einst 1972 für die olympischen Regattarennen in Schleißheim aufgestellt waren, außerdem mit Aichers markantem Tisch-Entwurf, den berühmten Piktogrammen und vielen Details aus seinem Entwerferleben. Im Hochsommer gibt es für die sehr gelungene Ausstellung mit vielen Schautafeln, Möbeln, grafischen Entwürfen und Fotos einen zweiten Münchner Termin: im Kulturzentrum Pasinger Fabrik, zwischen 7. Juli und  14. August. Spätestens da sollte man hin.

Text und Fotos: Alexander Hosch