Wild at heart

Frankreich, Lavandou: Menschen; Erika Mann im Liegestuhl. 1933. Foto von Annemarie Schwarzenbach

Sie war befreundet mit Klaus und Erika Mann, mit Therese Giehse, Carson McCullers, der Rennfahrerin Maud Thyssen, doch ihre Modernität stellt alle in den Schatten. Diese Frau hatte vor nichts Angst – außer vor dem Stillstand.

Annemarie Schwarzenbach, androgyn, schön, reich, rumpelte im schicken Ford-Cabriolet über die Schotterpisten des Mittleren Ostens, streifte durch den von Armut geprägten Baumwollgürtel der USA und drang immer tiefer ein in Afrikas Herz der Finsternis, den Kongo. Nicht aus reiner Abenteuerlust, sondern mit einem sozialen und politischen Gewissen als Motor.

Irak, Ukhaidar. Karteikarte: Festung; Auto von Annemarie Schwarzenbach. 1933

In ihren Reisefeuilletons ist sie an den Menschen ebenso nahe dran wie an den Landschaften. Wenn es für die Schriftstellerin, Reporterin, Fotografin, Antifaschistin und Morphinistin überhaupt einen Ruhepol gab, so war er das Engadin, ihre Wahlheimat. Und wer sich heute in Sils mit einem Buch dieser rasend progressiven Gestalt blicken lässt, wird womöglich schnell Freundschaften schließen.

Sils ist Endstation. Das Glitzern der Vergnügungssüchtigen in St. Moritz weit weg. An den Rand des Hochplateaus kommt nur der, der wirklich her möchte. Hier endete am 15. November 1942 das irrlichternde Leben der am 23. Mai 1908 in Zürich geborenen Industriellentochter. Erst 1987 setzte der Wirbel um die nach ihrem Tod bald völlig in Vergessenheit geratene, in keinem Literaturlexikon erwähnte Autorin ein. Sie wurde wiederentdeckt als feministische Galionsfigur, die unter persischen Turkmenen campierte und im Kohlerevier bei Pittsburgh recherchierte, während die Frauen zu Hause nicht einmal an die Wahlurnen durften. Erst im vergangenen November hat das Schweizerische Literaturarchiv, das Schwarzenbachs Nachlass pflegt, mehr als 3000 ihrer Fotografien auf Wikimedia Commons online gestellt: überwiegend Reisebilder aus vier Kontinenten, viele private Schnappschüsse ihrer Bohème-Freunde.

Heute taugt Annemarie Schwarzenbach zur Kultfigur. Auch zum Urbild einer Pop-Heroine. War Andy Warhols Mondgöttin Nico, die Sängerin von Velvet Underground, nicht ihre Wiedergängerin? Düsteres Charisma, surrealistische Klagelieder, den Drogen bereitwillig geopferte Schönheit. Dieser schwarze Stern. Geboren vor 110 Jahren.

Text: Alexandra González

Fotos: Sammy Hart und Annemarie Schwarzenbach https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CH-NB-Annemarie_Schwarzenbach

 

In das Bergell der Künstler

Ein anhaltendes Donnern, ein Seitental voller Staub … und auf einen Schlag hatte sich das Leben im Bergell verändert. Im August wälzten der Bergsturz am Piz Cengalo und mehrere darauf folgende Murengänge hundertausende Kubikmeter Schlamm und Geröll durch das Val Bondasca. Die Katastrophe traf eine Talschaft am Rande der Schweiz, die sich schon sehr lange im Schatten des Engadiner Glitzertourismus geduckt hält. Gewiss, die Schneise der Verwüstung in der roten Zone um das Dorf Bondo ist unübersehbar. Doch der Rest der Gegend gilt unbedingt als sicher.

Daher kämpft die Region mit der herzerwärmenden Initiative #Forzabregaglia um seine Reputation und gegen stornierte Reisebuchungen. Besucher und Bewohner sind jetzt aufgefordert, mit aktuellen Fotografien in den sozialen Netzwerken eine Ode auf die Vielfalt des Bergell anzustimmen. Eigentlich kein Problem bei dieser Darbietung: Zwischen dem Malojapass und Chiavenna, 17 Kilometer nördlich des Comer Sees, fällt die Landschaft von 1815 auf 333 Höhenmeter ab. Ein schroffer Wechsel der Kulturen,  von nordisch alpin zu üppig mediterran, von graubündnerisch zu italienisch, fast so als hätte jemand plötzlich das Schwarzweißfernsehen auf Farbe umgestellt. 

Gerade im Winter ist es hier wie nirgendwo sonst in der Schweiz: Keine Snowciety, Hotelburgen und Dom-Perignon-Süppchen, dafür stille Schönheit und ein einzigartiges     Zwielicht, das die Gefilde in dunkle Töne taucht. Vier Monate lang schafft es die Sonne nicht über die Gipfel der gewaltigen Berge, trotzdem herrscht ein mildes Klima im Tal. Wegen dieses besonderen und beständigen Lichts kehrte Alberto Giacometti, der in Paris mit seinen ausgemergelten Gestalten Weltruhm erlangt hatte, am liebsten während des Winters in seine Heimat zurück. Das Grau der alten Dörfer – mit ihren Granitschindeldächern wirken sie wie Versteinerungen – ist die Farbe von Giacomettis Kunst. Seine spindeldürren, schattenhaften Figuren verkörpern das Bergeller Gefühl. Zerbrechlich, doch hartnäckig. Ein Eingeklemmtsein zwischen steilen Dreitausendern und eng stehenden Häusern. So eng, dass man sie in den schmalen Gassen mit ausgestreckten Armen berühren kann.

Eine der bedeutendsten Künstlerfamilien der Moderne hat das Bergell hervorgebracht. Da sind Albertos Vater Giovanni Giacometti, der große Kolorist. Und Diego, ein begabter Bildhauer und Designer, mit dem der berühmte Bruder das Pariser Atelier teilte. Auch Augusto Giacometti, der Jugendstil und Symbolismus weiterdrehte und die Glasmalerei erneuerte, kam von hier.

Augusto Giacometti, „Am Morgen der Auferstehung“, 1915, Wandbild in der Kirche St. Pietro in Stampa

Zahlreiche Spuren hat diese Malerdynastie hinterlassen, doch erst kürzlich wurden sie nachhaltig freigelegt. Vorangetrieben hat diese Entwicklung die Fondazione Centro Giacometti. Die Stiftung bietet Vorträge, geführte Exkursionen und eine neue App, den „Giacometti Artwalk“. Drei Jahre Recherche und reichlich filmische Erzählkunst wurden in diesen audiovisuellen Guide investiert.  Der Kulturkompass lotst die Nutzer zu den Wohnstätten und Ateliers, zu Staffeleistandorten hunderter Kunstwerke. Das Beste dabei: auf diese Art weitet sich das Bergell zum Museé imaginaire aller Giacomettis.

In dem auf einer Sonnenterrasse in 1000 Meter Höhe gelegene Dorf Soglio finden sie sich schließlich doch: die wärmenden Strahlen. Für den Alpenmaler Giovanni Segantini, der am Ende des 19. Jahrhunderts hier oben überwinterte und auch dem Licht der Berge verfallen war, betrat man in Soglio nichts Geringeres als „die Schwelle zum Paradies“. Daran kann selbst ein höllischer Felssturz nichts ändern.

Fotos: © Sammy Hart

Text: Alexandra González

Alfred Hitchcock: The Man Who Knew Too Much (1934)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #4

The Man Who Knew Too Much stellte Peter Lorre 1934 erstmals in einer internationalen Produktion vor. Der deutsche Schauspieler ist in Hitchcocks Engadin-Film höchst sehenswert (auch wenn ihn die Coverzeichnung der DVD hier irritierenderweise als Mörder „M“ in Fritz Langs gleichnamigem Schocker zeigt)

vignette_film4_rz Dieser englische 75-Minuten-Thriller entstand kurz nach der Stummfilmzeit. Und somit lange ehe der Regisseur Alfred Hitchcock seine Hollywood-Klassiker drehte. Dennoch ist The Man Who Knew Too Much schon ein echter Hitchcock geworden. In eine Spionage-Handlung wird subtil das psychologische Drama einer Londoner Familie, die ihr Kind retten will, hineingestrickt. Beim Winterurlaub in St. Moritz haben Mr. und Mrs. Lawrence (Leslie Banks und Edna Best) den charmanten französischen Skispringer Louis kennengelernt, der während des Tanzes mit der Ehefrau Lawrence durch ein Hotelfenster hindurch erschossen wird. Er hinterlässt ihr eine geheime Botschaft, wegen der aber dann ihre Tochter Betty gekidnappt wird. In London – genauer: beim Konzert in der Royal Albert Hall und bei einem Feuergefecht – löst der angehende Meisterregisseur den Plot im zweiten Teil des Films dann nach allen Regeln des Suspense auf. Zuletzt analysierte Philosoph und Psychotherapeut Slavoj Zizek in mehreren Aufsätzen, wie bravourös Hitchcock gerade in diesem frühen Film sein Konstrukt mit hintersinnigen Details anfüllte – kleine Allegorien, Symbole, Übertragungen und Traumata. Während des Tanzes mit dem Franzosen im Hotel etwa löst sich durch einen

Hier die deutsche DVD. Rechts der Regisseur, der Der Mann, der zu viel wusste gleich zweimal verfilmte. Also Vorsicht beim Einkauf: Denn die Schauplätze waren andere, und James Stewart und Doris Day mimten 1956 nicht in der Schweiz, sondern in Marokko.

Drehbuch-Kniff langsam und vieldeutig der Wollpullover auf, den Mrs. Lawrence gerade für den Fremden strickt – der Ehemann hat dem Tanzenden nämlich einfach die Stricknadel in der Sakkotasche fixiert. Den Plot fand der Regisseur übrigens so großartig, dass er ihn 22 Jahre später mit Doris Day und James Stewart noch einmal verfilmte. Hitchcock selbst, der hier den Deutschen Peter Lorre als wunderbaren Schuft Abbott international einführte, kam übrigens extrem gern zum Urlauben ins Engadin und besonders nach St. Moritz. Dort fielen ihm oft die besten Szenen ein. Und im Badrutt´s Palace (wo er 45 Jahre lang immer dieselbe Suite gebucht haben soll) hat er auch  geheiratet.     Alexander Hosch