In das Tessin des Vincenzo Vicari

Für Vincenzo Vicari konnte das 20. Jahrhundert gar nicht rasant genug voranschreiten. Gegenüber jeder technischen, medialen und kommerziellen Neuheit war der Luganer Fotograf aufgeschlossen. So experimentierte Vicari (1911 – 2007) früh mit Luftfotografie und fühlte sich von der Leidenschaft für sein Metier vollends ergriffen, wenn er hoch oben eine Kamera gegen die Luft pressen musste, weil er gezwungen war, „sich beim Fotografieren mit dem Oberkörper aus dem Flugzeug zu lehnen“.

Mit demselben Elan hat er zwischen 1930 und 1990 den Wandel im Tessin dokumentiert. Entstanden ist ein komplexes Konglomerat aus Werbebildern für Industriebetriebe und Tourismusbroschüren, Landschaftsaufnahmen, Porträts des sozialen Lebens und des Brauchtums sowie Fotos zu Bauboom und höchster Ingenieurskunst in Form von Wasserwerken. Vicaris Bilderfundus visualisiert die Umgestaltung des Südschweizer Kantons von einem verschlafenen, bäuerlich geprägten Fleckchen Erde zu einem urbanen Motor, der sich trotz seiner Kraft allerdings nur schwerfällig bewegt.

Außerhalb des Tessins ist Vicari noch wenig bekannt, was sich mit der ersten großen monografischen Ausstellung im MASILugano gerade ändert. Dass sich diese Schau nur virtuell besichtigen lässt, macht die begleitende Publikation umso relevanter: Ein handlicher Katalog, der mit 190 meist unveröffentlichten Aufnahmen, überwiegend in Schwarz-Weiß, eine Exkursion durch die Bildwelt dieses vielseitigen Chronisten unternimmt.

Und der rote Faden in dieser Fülle an vollkommen ungekünstelten Momentaufnahmen, Fotoreportagen, Porträts und Postkartenmotiven? Es ist eine von großer Leichtigkeit getragene Sensibilität, die auch noch der größten Bausünde eine Prise Poesie einhaucht. Ewas von dieser Sprezzatura ist sofort zu erahnen, wenn wir das Buch aufklappen und uns der Meister selbst in einer Polyfoto-Serie aus dem Jahr 1940 gleich mehrfach keck entgegenlächelt.   Alexandra González

Vincenzo Vicari  | Fotograf | Das Tessin im Wandel der Zeit

MASILugano, 29.08.2020–18.04.2021

Bildband herausgegeben von Damiano Robbiani. Mit Beiträgen von Antonio Mariotti, Damiano Robbiani, Gianmarco Talamona und Nelly Valsangiacomo, bei Scheidegger & Spiess, 44 Euro.

www.masilugano.ch/de/882/vincenzo-vicari

www.scheidegger-spiess.ch

Die große Stille

 

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm #15

 

Gott steckt im Detail. Und Philip Gröning sieht genau hin: Fingerspitzen, die in Weihwasser tauchen. Im Sonnenstrahl tanzende Staubkörner. Dachschindeln, feucht glänzend vom schmelzenden Schnee. Sechs Monate verbrachte der deutsche Regisseur in der Grande Chartreuse, um diesen Filmessay über den strengsten Orden der christlichen Welt zu drehen. Bereits 1984 hatte er die schweigsamen Einsiedler in den Felsmassiven nahe Grenoble um eine Drehgenehmigung gebeten, 16 Jahre später kam die Erlaubnis. Die Auflagen: Kein künstliches Licht, keine zusätzliche Musik, keine Kommentare.

Der 2005 in den Kinos gestartete Film dokumentiert den Wechsel der Jahreszeiten und die asketischen Riten des Tages: Beten, stille Arbeit, ein Feld wird bestellt, eine Kutte genäht, die gemeinsame Messe in der fast vollständig dunklen Kirche, die gregorianischen Choräle als Träger der Innerlichkeit. Beides ist in der Kartause sehr gegenwärtig: das Einfache, Physische der Welt und die Abkehr davon. Um die Abgeschiedenheit zu steigern, umschließt eine hohe Klausurmauer die Zellen. Wie ein zweiter Schutzwall überragt das Chartreuse-Gebirge das Kloster. Der Begründer des Kartäuserordens Bruno von Köln schrieb: Wenn der schwache Geist durch die strenge Disziplin und die spirituelle Arbeit ermüdet ist, wird er durch die Schönheit der Landschaft aufgerichtet. Deshalb gehen die Patres einmal die Woche gemeinsam spazieren und blicken dankbar auf die Alpen wie auf ein großes Geschenk.

Foto und Text © Alexandra González

http://www.x-verleih.de/filme/die-grosse-stille/

 

Goethe taucht im Urmeer

 

Als ich im Goethehaus Weimar die Aufsicht bitte, eine der Schubladen in den Sammlungsschränken zu öffnen, muss ich sofort an die Alpen denken und hoffe, hier ein steinernes Souvenir zu finden. Doch sie schüttelt verlegen den Kopf. Das habe so lange niemand mehr getan, sie können mir nicht sagen, was in den Schubladen sei. Wir erfreuen uns also nur an den in den verglasten Aufsätzen sichtbaren Schaustücken aus Goethes geowissenschaftlicher Schatzkammer, aber eines wird auf unserem Rundgang durch das überraschend behagliche Domizil am Frauenplan immer offensichtlicher: Dieser Mann war als Universalgelehrter ebenso bedeutsam wie Leonardo. Behauptet zumindest meine Freundin S., mit der ich durch die von der milden Spätsommersonne zum Leben erweckten Räume streife. Kennen den Weimarer Geheimrat und Dichterfürsten weltweit ebenso viele Menschen wie den Maler der „Mona Lisa“? Wer weiß das schon? Mich interessiert nun aber doch sehr, warum sich der berühmte Italienreisende in die Alpen verliebt hatte: Einfach weil er sich als leidenschaftlicher Geologe und Mineraloge nicht sattsehen konnte an den „grauen Kalckfelsen“ und „höchsten weisen Gipfeln auf dem schönen Himmelsblau“.

Im Herbst 1786 reist er aus dem Norden Richtung Rom und macht sich zwischen München und Bozen unermüdlich Gedanken über den Aufbau der Alpen. (Auf dem sogenannten Goetheweg können ausdauernde Fans auf seinen Spuren von München nach Verona fernwandern.) Als Neptunist ist er davon überzeugt, dass alle Gesteine durch Auskristallisation aus dem Urmeer entstanden sind. Vulkanischen Ursprungs könne der Bozener Quarzporphyr nicht sein. Ja doch, auch ein Genie darf sich irren.

Ab den 1780er Jahren bis zu seinem Tod am 22. März 1832 auf dem Bett seines Weimarer Schlafzimmers vertieft sich Goethe in die Welt der Gesteine und Mineralien, baut thematische Sammlungen auf. Tausende Fundstücke trägt er selbst zusammen und verwahrt sie im blassgrün getünchten privaten Arbeitsbereich (Grün, schreibt Goethe in seiner Farbenlehre, verschaffe dem Auge „reale Befriedigung“) sowie im roten „Steinpavillon“ am Rand seines Bauerngartens.

Derart nachhaltig glüht die Mineralienpassion des wissensdurstigen „Faust“-Schöpfers, dass 1806 der Goethit nach ihm benannt wurde: ein rostbraun schimmerndes und manchmal regenbogenfarben irisierendes Eisenerz, dessen langgestreckte Kristalle wie Nadeln aus dem Gestein wachsen. Goethit ist häufig mit anderen Mineralien vergesellschaftet – so stabil und disziplinübergreifend  stelle ich mir die Denkfreude des Universalgelehrten vor. Womöglich hat meine Freundin einfach recht.

Text und Fotos © Alexandra González

 

Auf den Gipfeln der Moderne

Bis zu acht Personen bietet Charlotte Perriands „Tonneau“-Hütte Unterschlupf. Entwurf von 1938, realisiert 2012

Spätentschlossene haben nur noch wenige Tage Zeit, um im TGV nach Paris zu sausen und sich in der Ausstellung „Charlotte Perriand: Inventing a New World“ (Fondation Louis Vuitton; bis 24. Februar 2020) von einer Pionierin der modernen Alltagswelt den Kopf verdrehen zu lassen.

L‘ Art de vivre?  Hat diese Stilikone komplett umdefiniert. Erdenschweres wird bei ihr federleicht, Kantiges geschmeidig, Kühles wohlig warm, Eckiges passt ins Runde. Und im Mittelpunkt steht immer der Mensch.

Mit ihren Savoyer Wurzeln trug die weltläufige Architektin und Designerin die Alpen im Herzen. Ihre Passion für das Skifahren und Bergsteigen spiegelt sich in etlichen in der Retrospektive aufgefädelten Projekten wieder und trieb sie an den Wochenenden regelmäßig aus dem Pariser Atelier: „Wir brachen freitagabends zum Jura oder in die Alpen auf und kehrten montagmorgens in das Atelier zurück, nicht immer in guter Verfassung, aber glücklich.“

Modell des Ski-Resorts Les Arcs. Fotoprojektion: Die zur offenen Landschaft hin ausgerichtete Apartmentanlage
Schirm oder Karussell? Dachkonstruktion der „Tonneau“-Schutzhütte

Perriand plante für eine Dutzend Menschen ebenso virtuos wie für Abertausende. So präsentiert diese Schau ihre in der Konstruktion an ein Karussell erinnernde „Tonneau“-Schutzhütte, die 1938 entworfen und 2012 von Cassina realisiert wurde – ebenso wie die französische Skistation Les Arcs (1967-1989). Den Massentourismus domestizierte Perriand, indem sie die lichtdurchfluteten Apartmenthäuser bogenförmig in die Landschaft integrierte und von jeder der zahlreichen Wohneinheiten einen unverstellten Blick in die Berge ermöglichte.

Übrigens, eine Handvoll Personen würde ausreichen, um die Refuges im Nu aufzubauen. Selbstverständlich packte Charlotte Perriand immer mit an (Foto unten).

Text und Fotos © Alexandra González

www.fondationlouisvuitton.fr/en/exhibitions/exhibition/charlotte-perriand.html

 

Agenten sterben einsam

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: 

Heimlicher Alpenfilm #13

So impossible scheint die Mission von Richard Burton und Clint Eastwood, dass sie Tom Cruises Aufträge wie ein Kinderspiel aussehen lassen: Als Major Smith und Lieutenant Schaffer müssen sie unbemerkt in das Hauptquartier des deutschen Geheimdienstes eindringen, um einen US-General im Besitz hochbrisanter Informationen zu befreien. Ein Himmelfahrtskommando.

Eastwood agiert in Brian G. Huttons Kriegsfilm-Klassiker von 1968 – Originaltitel „Where Eagles Dare“ – nach dem üblichen Erfolgsrezept: Schlechte-Laune-Gesicht plus umstandslose Gewaltanwendung. Als Kulisse für das Nazi-Wespennest diente Burg Hohenwerfen, seit dem 11. Jahrhundert ein strategisches Bollwerk auf einem markanten Felskegel im Salzachtal. In dem vertrackten Kaninchenbau bewegt sich Burton, auch zuständig für die ruhigen Shakespeare-Momente in dem Actionfilm, mit der Präzision einer Schweizer Uhr.

Immer wieder lassen Doppelagenten und okkulte Ziele die Handlung in anderem Licht erscheinen. Trotz dieser Volten ist der Spionagethriller reinster Situationismus: Eine verhängnisvolle Lage reiht sich an die nächste wie Perlen auf einer Zündschnur. Fahrzeuge, Brücken, Bäume und Personen fliegen konfettigleich in die Luft. Dieses pyrotechnische Ballett kommt in der tief verschneiten Landschaft der Salzburger Schieferalpen, wo die Filmcrew ab Januar 1968 drehte, besonders gut zur Geltung.

Alexandra González

https://www.amazon.de/Agenten-sterben-einsam-Blu-ray-Eastwood/dp/B003GZ4QJ2/ref=tmm_blu_swatch_0?_encoding=UTF8&qid=&sr=

Weihnachtsfantasien in 3-D

Wie ein gut entwickelter Säugling, der gerade lernt, sich zu drehen und die Welt zu erkunden, greift das Jesuskind mit dicken Fingerlein nach dem schlichten Holzkreuz. Vor Anstrengung glühen seine Pausbäckchen rosig. Meine Freundin R. hatte die entzückende Idee, sich und uns an ihrem Geburtstag mit einer Führung durch die Krippensammlung des Bayerischen Nationalmuseums zu beglücken. Also tauchen wir tief in den kulturellen Kontext ein und können es kaum fassen: Christkindl dieser Art wurden Novizinnen beim Eintritt in das Kloster mitgegeben,  als „Seelentrösterle“, „Himmelsbräutigam“, dessen Nacktheit meist keusch unter einem reich bestickten Seidengewand verschwand, oder gar als Babyersatz.

Einige Vitrinen weiter vollführt ein Schwarm von Epheben, nichts als ein Musselintuch um den kaum erwachsenen Leib gewickelt, ein expressives Ballett.  Ein verfrühter Beitrag zu Gender Studies, dies? Reichlich individuelle Lesarten der Weihnachtsgeschichte bietet die Schau im Bayerischen Nationalmuseum an der Münchener Prinzregentenstraße, die noch bis Ende Januar zu besichtigen ist. Vielleicht ist das Schönste an diesem Reigen, dass die Schöpfer der himmlischen Szenografien die Leerstellen im Narrativ mit ihrer ungezügelten Fantasie füllten.

Das Konzept dieser enorm bedeutenden Sammlung von Krippen aus dem Alpenraum und Süditalien der Zeit um 1700 bis zur Moderne geht zurück auf ihren Stifter Max Schmederer (1854 – 1917), Münchner Bankier mit Mission. Er hatte eine sehr präzise Vorstellung von der Aufstellungsart, die stilbildend wurde. Bevor er seinen Schatz der Institution schenkte, machte er jedes Jahr zur Adventszeit den Pulk kunstvoll geschnitzter oder geformter und ausstaffierter Figurengruppen sowie die vielen stimmungsvollen Schaubilder in seinem Privathaus öffentlich zugänglich.

Während die neapolitanischen Krippen mit farbig gefassten Figuren und einer dramatischen Lichtführung in den Dioramen oft wie ins Dreidimensionale gesteigerte Gemälde Caravaggios anmuten, bezeugen die alpenländisch inspirierten Szenen Sinn für hintergründigen Humor. Im vogelwilden Wimmelbild, für das Wenzel Fieger um 1890  über 1000 auf Karton aquarellierte und ausgeschnittene Protagonisten in einem vier Meter langen Moosgebirge verankerte, versuchen wir, eine sich im Strahl erleichternde Kuh auszumachen. Da ist sie, und wie frech sie über die Schulter blickt!

In einer Krippe aus Nordtirol, die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand, verfolgt ein Almbauer im Lodenmantel mit hölzerner Buckelkraxe aufmerksam die „Verkündigung an die Hirten“. Und jetzt schaut’s her, der „Krippenjackl“ aus Laufen an der Salzach besitzt ein zweites Gesicht: Mal freundlich lächelnd, mal zur Fratze verzerrt. So oder so lässt sich der Januskopf dieser Trachtenpuppe nach Belieben austauschen. Der reinste Horror, da wird es nicht nur den mitgebrachten Kindern angst.

Schließlich eine Epiphanie für die Architekturaffinen unter uns. Wer hätte gedacht, dass ein kleiner Gerbermeister vor 200 Jahren in Bozen die Postmoderne vorwegnahm? Karl Sigmund Moser schuf aus Palästen im Stil Palladios, osmanischen Kuppelbauten, barocken Brunnen, Arkaden, Treppenaufgängen und neogotischen Spitzbögen die ideale Stadt Jerusalem. Leider ist von seiner Fantasiearchitektur heute lediglich ein Teil erhalten. Ursprünglich tummelten sich in Mosers Weihnachtswunderland zudem Gemsen auf Bergen und Tiroler Almhütten standen zwischen Libanon-Zedern. Hach, so herrlich eklektisch geht es zu, wenn man bei der Wirkung der Krippe nur ein Ziel verfolgt – die ganz große Oper, ein Staunen und Raunen über Jahrhunderte hinweg.

Text und Fotos © Alexandra González

Die Krippensammlung kann ab November bis Ende Januar während der regulären Öffnungszeiten besichtigt werden. Von Februar bis Oktober nur nach Voranmeldung. www.bayerisches-nationalmuseum.de

Von k.u.k. in die Gegenwart

Bäume der Erkenntnis gedeihen zuhauf in diesem Garten Eden, der sich an die steil abfallenden Felsen von Arco Trentino schmiegt. Bedingt durch das milde Klima und die vor scharfen Winden schützende Lage wächst wirklich jedes Gehölz in dem verwunschenen Arboretum. Monterey-Zypresse, Sequoia,  Kampfer- und Avocado-Baum, Korkeiche, Agave, Seidenbaum und Fächerpalme sind nur einige der 200 Arten aus aller Welt, die in diesem Lehrgarten uralt werden. Auch exotische Zitrusfrüchte wie Bergamotte, Zedernapfel und Pomeranze reifen in einer pittoresken Limonaia.

Erzherzog Albrecht von Österreich hatte Arco zum Winterkurort sowie Altersrefugium gewählt und ließ das Paradies samt Villa 1873 nach seinen Vorstellungen anlegen. Hier erholte sich die graue Eminenz aus der Entourage Kaiser Franz Josephs von der strikten Ordnung am elitärsten Hof Europas. Man würde sich wünschen, die weiche Champagnerluft hätte seine neoabsolutistische Haltung nachgiebiger werden lassen, doch so war es nicht.

Wie auch in Wien schottete sich der Habsburger Hochadel hinter Gittern und Mauern von der Außenwelt ab. Es sollte 120 Jahre dauern, bis das erzherzogliche Arboretum – nun unter der Verwaltung des Museo Tridentino di Scienze Naturali in ein Freilichtmuseum verwandelt – jedem offenstand.


Ganz möchte man sich in Arco nicht von der schillernd-feudalen Vergangenheit lösen, denn der alte k.u.k-Glanz trägt mit seinen Magnolienalleen und kaum in Schuss zu haltenden Luxussanatorien wesentlich zur charmanten Noblesse bei. Dennoch wurde nun in Sichtweite des Arboretums ein herrlich demokratisches Projekt realisiert: Der Parco Nelson Mandela im Stadtteil Braile ist ein eindrucksvolles Urban-Gardening-Unterfangen, an dem Jung und Alt beteiligt sind.

Es duftet nach Melisse, Thymian, Minze und im Frühling dann nach blühenden Obstbäumen. Zwölf junge europäische Architekten haben kürzlich in einem Workshop eine zeitgemäße Parkmöblierung ausgetüftelt. Jetzt machen aparte Paravents, schattenspendende Pergolen und Sitzgelegenheiten, allesamt aus Holz, ihre Lockangebote. Wer Lust hat auf einen Apero, kommt frühabends vorbei, wenn der Park am belebtesten ist, bestellt einen Gin Tonic „biologico“ am Kiosk und beobachtet, wie nonchalant die Generationen in Italien miteinander umgehen. Das Habsburger Hofzeremoniell könnte nicht weiter entfernt sein.

Text und Fotos: Alexandra González

Moonwalk

Der höchste Berg auf dem Mond heißt Mount Huygens und erhebt sich 5 500 Meter über der Tiefebene des Mare Imbrium. Als Mare Humorum wird eine weitere Formation des Erdtrabanten bezeichnet. Gut sichtbar ist dieses “Meer der Feuchtigkeit” auf einer Heliogravüre des Wiener Astronomen – und späteren Pariser Sternwartendirektors – Maurice Loewy. Die gestochen scharfe Aufnahme bildet den Auftakt zur flamboyanten Ausstellung “ZERO GRAVITY. Apollo 11 and the new notion of space” in der Münchner Eres-Stiftung. Die Schau erkundet, wie sich parallel zur Mondlandung vor genau 50 Jahren neue Konzepte von Raum und Zeit Bahn brachen und bislang geltende Grenzen in Kunst, Architektur, Musik, Film, Design, Wissenschaft und Technik eingerissen wurden. Wer hätte gedacht, dass die kleine Alpenrepublik Österreich bis heute einen bemerkenswerten Anteil an dieser tollen Dynamik  hat? Ein Land der Querdenker eben.

Loewys 1902 im “Atlas Photographique de la Lune” publizierte Aufnahmen dienten als Grundlage für die moderne Mondkartographie. Plötzlich schien der Kosmos zum Greifen nah und zugleich weitete sich der Raum. Eine paradoxe Sensation, die sich mit der Landung des ersten Menschen auf dem Mond fünf Jahrzehnte später ins Spektakuläre steigerte. So schön und vielversprechend sah die Zukunft nie wieder aus. Die Apollo-Mission befeuerte eine alle Lebensbereiche erfassende Aufbruchsstimmung.

Leitmotivisch gleiten Andy Warhols heliumgefüllte “Silverclouds” durch die niedrigen Souterrainräume der Schwabinger Eres-Stiftung. Nicht wiederzuerkennen ist das Gewölbe, nachdem der Tiroler Peter Kogler, der hier als Künstler-Kurator agiert, es mit Spiegelfolie in Millimeterpapier-Ästhetik in ein surreales Raumschiffinterieur verwandelte. Er selbst erinnert sich noch lebhaft an die Mondlandung, die er als Zehnjähriger während seines Adria-Sommerurlaubs im Nachbarhotel verfolgte: “Es gibt niemanden, der nicht wüsste, vor welchem Fernsehapparat er damals saß.”

Für ZERO GRAVITY vermittelte er einige österreichische Positionen von Freunden und sympathischen Visionären nach München, darunter Walter Pichlers “Apparat” von 1966 aus der radikalen Skulpturen-Serie “Protoypen”, Zwitterwesen aus Kunst und Design, in denen der Sound des Space-Age widerhallt. Oder die zwei Jahre später entstandene “Cloud” von COOP HIMMELB(L)AU aus Plexiglas-Halbkugeln. Vollkommen losgelöst von Architekturkonventionen wurde hier etwas Schwebendes, Wolkiges erträumt. Was zählt, sagt Kogler, “ist die Neugier, Dinge durchzutesten, für die es keine Erfahrungswerte gibt”.

So wie das innovative Materialmuster des Wiener Ingenieurs Emilio Podreka. Es besteht aus solargesintertem Granulat, das Mondstaub gleicht und zu Ziegeln verfestigt – mit Hilfe des 3-D-Druckers – neue Habitate auf dem Erdtrabanten ermöglicht. Diese wiederum wären ein Sprungbrett in die Ferne: Der Mond ist heute vor allem als Zwischenstation zum Mars wieder ins Visier gerückt.

Nach dem Leben auf dem Mars fragte bekanntlich auch David Bowie. Ein melancholischer Weltraum-Odysseus wie er darf in der Show nicht fehlen. Wer die Aufsicht nett fragt, bekommt vielleicht Bowies “Space Oddity” in der sehr schicken Dieter-Rams-Phono-Ecke auf den Plattenteller gelegt.

Text und Fotos: Alexandra González

ZERO GRAVITY. Apollo 11 and the new notion of space. 20.7.19 – 01.02.20, mit wissenschaftlichem Begleitprogramm. www.eres-stiftung.de

Von der Amour fou zum Musée imaginaire

Kostbare Objekte, Glasmalerei, Zeichnungen, Skulpturen, Hauptwerke von Giovanni Segantini, Rudolf Koller, Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler und Alberto Giacometti. Angesichts der Schätze, die derzeit im Landesmuseum Zürich und demnächst auch im Museo d’arte della Svizzera italiana in Lugano versammelt sind, können einem die Augen übergehen. Es ist schon ein besonderes Fest, da diese Meisterwerke normalerweise auf 70 eidgenössische Museen verstreut sind. Sie stammen aus der Sammlung der seit 1891 aktiven Gottfried-Keller-Stiftung, eine märchenhafte Kollektion Schweizer Kunst ohne eigene Räume, die ihre Bestände, darunter Segantinis „Alpentryptichon“, Böcklins „Toteninsel“ oder Kollers „Gotthardpost“, als Dauerleihgaben auf verschiedene Häuser verteilt hat. Unmöglich, die mehr als 6400 Archive und Konvolute alle zu Gesicht zu bekommen. Ein plakatives Denkmal wollte sich die Stiftungsgründerin Lydia Welti-Escher vor 130 Jahren offenbar nicht setzen. Doch wer war diese großherzige Frau? Und warum so selbstlos?

Nur etwas mehr Kampfgeist und aus ihr wäre eine Peggy Guggenheim der Belle Époque geworden: Eine Mäzenin, die auch schwierige Kunst unterstützt, die sich die Freiheit nimmt, einen unmöglichen Kerl zu lieben und am Ende sagt – ich bereue nichts. Doch die wohlhabende Zürcher Patriziertochter lebte in einer Gesellschaft, die Frauen keine Flügel verleiht. Ihre Amour fou zu dem Künstler Karl Stauffer-Bern gipfelte im größten Schweizer Society-Skandal des 19. Jahrhunderts.

Karl Stauffer, „Bildnis von Lydia Welti-Escher“, 1886, Kunsthaus Zürich. Cover des Ausstellungskatalogs

Als sie ohne Geld und ohne Gepäck mit Stauffer-Bern nach Rom durchbrannte, intervenierte die mächtige Familie ihres Ehemanns Friedrich Emil Welti: Die Eskapade endete für sie im Irrenhaus und für ihn im Kerker. Beide kamen nach Monaten frei, zerbrachen aber an der Kriminalisierung ihrer Liebesgeschichte – und nahmen sich das Leben.

Bevor Lydia Welti-Escher am 12. Dezember 1891 starb, regelte sie noch eine Herzensangelegenheit: Ihr kolossales Vermögen aus dem Erbe des Eisenbahnkönigs Alfred Escher schenkte sie der Schweiz – zur Gründung einer Kunststiftung, die den Ankauf bedeutender Werke ermöglichen und auch Frauen weiterbilden sollte. Wieder schalteten sich die Weltis ein und redeten ihr den emanzipatorischen Passus in der Gründungsurkunde aus. Nicht einmal ihren Namen durfte sie der Stiftung vermachen. Warum ließ sie sich erneut demütigen? Es bleibt ein Rätsel.

Barthélemy Menn, „Waadtländer Mädchen mit Schlüsselblumen“, 1860. Kunsthaus Zürich

Heute ist die Gottfried-Keller-Stiftung, benannt nach dem Dichter und Freund der Familie Escher, das größte Musée imaginaire der Schweiz. Seit Ende 2018 hat es zudem einen digitalen Zwilling, denn das Bundesamt für Kultur präsentiert immer mehr Werke aus der Sammlung auch online. In Zürich und Lugano bietet sich endlich die Gelegenheit, die Highlights vereint und leibhaftig zu erleben.

Alexandra González

 

 

„Glanzlichter der Gottfried-Keller-Stiftung“, bis 22.04.2019, Landesmuseum Zürich

https://www.nationalmuseum.ch/d/microsites/2019/Zuerich/Glanzlichter.php

„Hodler – Segantini – Giacometti. Capolavori della Fondazione Gottfried Keller“, 24.03.-28.07.2019, Masi Lugano

http://www.masilugano.ch/it/794/hodler-segantini-giacometti

Zu den Ausstellungen ist bei Scheidegger & Spiess der schöne Katalog „Meisterwerke der Gottfried-Keller-Stiftung“ erschienen. Er kostet 38 Euro.

https://www.scheidegger-spiess.ch

Sammlung online:

https://www.gottfried-keller-stiftung.ch/gks/de/home.html

Le Silencieux

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Heimlicher Alpenfilm #10

Der Kalte Krieg, Spionage, Verrat – all die Geheimniskrämerei etablierte ein eigenes Filmgenre, den Agententhriller. Nach einer Hochphase in den Sechzigerjahren mit James Bonds Gentleman-Kapriolen und der klaren Freund-Feind-Logik dieser bipolaren Eiszeit, tauchte 1973 ein wunderbar melancholisches Gegenstück auf: In „Le Silencieux“ – die erste Zusammenarbeit des Regisseurs Claude Pinoteau mit Lino Ventura – gibt es auf beiden Seiten nur noch Feinde. Ventura spielt den französischen Physiker Clément Tibère und schlüpft einmal mehr in die Paraderolle des schweigsamen Machers.

Als Spielball der russischen und britischen Geheimdienste gerät Tibère in ein existenzielles Dilemma. Vor 16 Jahren vom KGB entführt, seitdem unter falscher Identität in Moskau, jetzt wiederum in den Fängen des MI6, kann er sich nur mit der Preisgabe von Namen russischer Agenten freikaufen. Aber was heißt schon Freiheit, wenn einem der KGB auf den Fersen ist? „Ich weiß, dass sie mich überall suchen, dann sterbe ich lieber im heimischen Wald“, beschreibt dieser Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft knapp sein Schicksal. Nun nimmt er es selbst in die Hand.

Die Ökonomie der Worte, Gestik und Mimik hat Ventura bekanntlich perfektioniert und diese Begabung entfaltet sich vollkommen in seinem Gesicht, wenn Tibère nach 16 Jahren in einem Bistro erstmals wieder ein Gläschen Côtes du Rhône trinkt. Mehr Ruhe gönnt der Film ihm nicht. Es ist eine harte, atemlose Jagd, weichgezeichnet nur vom typischen Sfumato der Siebzigerjahre-Bilder, in Zügen, gestohlenen Autos, hinter den fadenscheinigen Vorhängen von Provinzhotels. Seine Flucht führt ihn an den Alpenrand nach Genf und Grenoble. Doch der heimische Wald, das wird für Tibère der Col de Gleize nördlich von Gap.

In diesem nervösen, hochspannenden Film zeigt die Kamera die Landschaft nun erstmals in der Totalen. Der Herbst hat sich auf die Flanken der Dauphiné-Alpen gelegt. Tibère scheint den Häschern nicht zu entkommen und blickt dem Tod ins Auge. Ohne jedes Pathos hat Ventura die Tragik seiner Figur ausgereizt. Großes Schauspielerkino, für das er die dramatische Kulisse der Berge eigentlich nicht bräuchte.

Alexandra González

Ich - Die Nummer 1

„Ich – Die Nummer eins“ heißt der Film in der deutschen Fassung (Tobis). Sie ist als DVD über Amazon erhältlich.