Schwarz wie Schnee

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm #21

Die Landschaft ist tiefgekühlt. Es schneit dicht. Die Kamera der Anfangssequenz zieht einen eleganten Schwenk über Fluss, Felsen, Schnee. Und landet dann mitten in der weißen Wüste auf dem erfrorenen Gesicht einer Frau. Sie schlägt die Augen auf.

Schlussszene aus dem Film: Das Ermittlerduo Andreas und Constance im tiefen Schnee.

Tod oder Täuschung im französischen Winter? Ein doppelbödiger Film beginnt. Bald geht es um Serienmorde. Da strömen im Geist doch gleich purpurne Flüsse durch die weiße Pracht. Doch die Lage ist anders als für die Schauspieler Jean Reno und Vincent Cassel damals, die im Kassenschlager des Jahres 2000 zwischen Albertville und Grenoble unterwegs waren, also rund 150 Kilometer südlich. Diesmal schwirren die französische Polizistin Constance (Clémentine Poidatz) und ihr Schweizer Kollege Andreas (Laurent Gerra) durch das Grenzgebiet hoch über dem Genfer See. Unmotiviert bis unwillig beginnen sie ihre gemeinsamen Ermittlungen im Nebel und im Schneegestöber. In den eisigen Höhen eines der beliebtesten Skigebiete zwischen Wallis und Haute Savoie wird zuerst die Leiche eines Jugendlichen mit 4 Promille im Blut gefunden, dann werden noch weitere Opfer geborgen. Hängen die Taten zusammen? Sind sie in der gleichen Nacht geschehen? Aus demselben Grund? Bald wird klar: Die Sache hat mit einem Skiteam zu tun, das vor 20 Jahren den Nationalkader bildete. Auch Constances verschollene Schwester gehörte ihm an.

Offenbar schlägt die Vergangenheit jetzt neue Wunden. Aber ist der Mörder nun ein durchgeknallter Tourist? Oder doch ein alter Bekannter? Constance und Andreas pflügen in Eric Valettes Thriller von 2021 mit Schneemobilen, Schlittenhunden, Seilen und Steigeisen durch die Hochebenen und über die Klippen. Ansonsten stochern sie lange im Nebel. Die an sich sonnenverwöhnten Skistationen der Portes du Soleil liegen still, düster und grau. Zwei Drehorte waren das traditionelle Dorf Morzine und das futuristische, vom Pariser Architekten Jacques Labro erbaute Avoriaz auf 1800 Metern, beides prominente Skiresorts.

Doch ist dies weder ein Architektur- noch ein Bergfilm. Auch kein Skifahrerfilm. Vielmehr ein atemberaubendes Rachedrama. Die Energien von einst und heute treffen sich wie in einer Schneekugel, sie bilden Kristalle, kein Molekül kann rein oder raus. Und Constance muss Spuren suchen, ob sie will oder nicht. Welche Rolle spielen der Bürgermeister, der Immobilienzar, der korrupte Umweltschützer? Warum stolpern sie und Andreas über ein Absinthversteck und die gefälschten Schadstoffprognosen eines projektierten Wasserparks? Wieso ist die Kältekammer des abgewrackten Fitnessstudios so perfekt intakt? Die Filmerzählung ist sehr schön spannend – und psychologisch solide konstruiert. Langsam schält sich die schreckliche Wahrheit aus dem Plot. Und die Ästhetik baut auf die Bildermacht der krassesten Steilhänge und Felsgründe. Wer von Morzine per Seilbahn mal selbst ins autofreie Avoriaz hinauffährt (was hiermit empfohlen wird), kann diese besondere Landschaft, unweit des Mont Blanc, jeden Winter in ihrer ganzen Dramatik erleben. Das hat der Regisseur natürlich ausgenützt.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

Schwarz wie Schnee, 2021, 85 Minuten, Verleih: Atlas Film Home Entertainment, DVD / Blue Ray ab 12,99 Euro; Streaming wird auf wechselnden Plattformen angeboten.

 

Und schaut doch bitte – nach dem Lesen – noch zu unserem hier verlinkten heimlichen Alpenfilm #7:

https://www.alpine-kultur.com/die-purpurnen-fluesse-2000/

 

Wunschglocke und Himmelsschaukel

Skifahren ist eine extrem sinnliche Angelegenheit. Das weiß jeder, der schon mal bei Sonne durch den unberührten Schnee gekurvt ist. In Zeiten von unsicheren Schneelagen müssen dennoch neue Ideen und Vergnügen dazukommen. Das Sterzinger Familienskigebiet am Rosskopf zum Beispiel schafft es gerade mit einer formidablen Glocke, die kleine und große Besucher mit Weitblick über die Dolomitengipfel anschlagen dürfen, so einen Thrill zu erzeugen. Ein Herzenswunsch soll dabei für jeden der Glöckner, die auf über 2000 Höhenmetern walten, in Erfüllung gehen… Und gleich neben der Glocke hängt eine Himmelsschaukel. Auf sanfte Weise verschafft sie da oben fast so viel Spaß wie eine Achterbahnfahrt. Danach geht´s wieder auf die Piste.

Skiurlaub am Monte Cavallo, wie der Rosskopf in Italien heißt, ist anders. Warum? Weil hier keine Champions League des Wintertourismus ausgetragen wird. Höher, schneller, weiter – das findet anderswo statt. Die kleine Stadt Sterzing hat viel individuellere Vorzüge: Hier quert die Kabinenbahn – ein Alleinstellungsmerkmal, das fast jeder Europäer von einem Italienurlaub kennt – die Brennerautobahn. Sehr romantisch und charmant. Weil Sterzing fast 1000 Meter hoch liegt und damit als eine der höchsten Städte Italiens gilt, lässt sich die erst 2018 angelegte Talabfahrt praktischerweise gut mit einem Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone der alten Fuggerstadt abschließen. 
Zwölferturm, Rathaus und freskengeschmückte Kirche warten mit mehr als 1000 Jahren Geschichte auf, Alt- und Neustadt mit zahllosen Geschäften. Und mit traditionellen Wirtshäusern, die Spinatknödel, Schüttelbrot-Gnocchi und 
Schlutzkrapfen servieren. Weil Sterzing nur 15 Kilometer unterhalb des Brenners, also supernah an Österreich liegt, stürmten zu Coronazeiten zehntausende Lockdown-geschädigte Österreicher dort den nördlichsten Weihnachtsmarkt im Nachbarland.

Die jüngste Attraktion ist aber die gerade erst am letzten Wochenende eingeweihte 10-er-Gondelbahn zum Rosskopf. Samt neuer Stationen für Berg und Tal. Blitzgeschwind und blitzgescheit nutzten die Betreiber unerwartet angebotene Coronamittel, um den erst für 2027 geplanten Bahnaustausch vorzuziehen. Die aktuelle Superseilbahn erreicht den Gipfel natürlich schneller als das 35 Jahre alte Vorgängermodell. Sie ist auch viel bequemer, ein Vorzeigeprodukt der lokalen Gondelbaufirma Leitner, eines Unternehmens mit weltweit 5000 Beschäftigten. 

Lohnt sich so eine Investititon in Sterzing überhaupt? Ja, weil das Skigebiet so hoch liegt und der Rosskopf mit der verkehrsgünstigen Lage sommers wie winters als Top-Freizeitziel gilt. Sterzing hat jedes Jahr 1,3 Millionen Übernachtungen. Vergangenen Monat konnte der Ausrüster in der neuen Talstation gleich an mehreren Tagen alle seine tausend Leihschlitten an die Leute bringen. Denn über Sterzing gibt es auch die mit zehn Pistenkilometern längste beleuchtete Rodelbahn Italiens. Freitags ist das Nachtrodeln sogar bis Mitternacht möglich. 

Also doch noch ein Superlativ. Ruhig und entspannt bleiben die Ferien rund um Sterzing trotzdem. Ob Gast und Gästin einen Langlauftag in den Loipen des stillen Pfitschtales einlegen, wo bei St. Jakob der weitläufige Talschluss nur mit wenigen anderen Sportlern geteilt werden muss. Ob sie in der schicken Bar des Restaurants Stern auf ihre Mountain-Chalet-Ferien dort oben anstoßen. Oder ob sie im Hotel Engels Park eine der neuen Fugger-Suiten ausprobieren, die zusammen mit einem Saunareich aus altem Holz und viel Glas samt „Kräuternest“ und Kaminraum in einem großen Park liegen und so das frühere Hotel Zum Engel in unsere Zeit gebeamt haben. In Sterzing sind snow holidays immer auch slow holidays.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Tageskarte für Erwachsene ab 47 Euro; www.rosskopf.com

Hotel Engels Park, z.B. Junior Suite für 1 Nacht, ca. 200-240 Euro; www.engelspark.it

Gasthaus Schaurhof in Ried, www.schaurhof.it

Restaurant Graushof in Afens, www.graushof.com

Sternhütte, www.stern.one

Bitte lest auch unsere Story #12, Rubrik Straßenrandperlen (2019): 

https://www.alpine-kultur.com/die-rosskopfgondeln-ueber-der-brennerautobahn/

Das Netz – Prometheus (Serie, 2022)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm  #19

Russland, Katar, China – immer öfter werden wichtige Wettbewerbe des internationalen Sports und vor allem des Fußballs von Diktaturen bezahlt, bestimmt oder ausgerichtet. Manchmal sogar alles zusammen. Die entscheidenden Bürostätten der internationalen Kickergemeinschaft dagegen finden sich in der Regel an gemütlichen Orten im sicheren Europa. Am liebsten mitten in den Alpen.

Der Weltfußballverband Fifa etwa. Dessen lichte neue Zentrale liegt auf hehren Höhen in Zürich. Mit majestätischer Weitsicht auf die steinernen Riesen der Schweiz. Und die Uefa, die Union der europäischen Fußballverbände: Sie sitzt in Nyon am Genfer See. Da leuchten vom anderen Ufer täglich Mont Blanc und Co herüber, also Europas absolute Gipfelavantgarde. Beide Orte kommen jetzt in der aktuellen österreichischen Serie „Prometheus“ vor, die rechtzeitig zur Fifa-WM 2022 – als Teil des internationalen TV-Projekts Das Netz – in dieser Woche ausgestrahlt wird. Hinter geparkten Autos und aussteigenden Schauspielern sind sie manchmal als Kulisse zu sehen. Auch die Vedute von Salzburg bekommt einige grandiose Bildschirmmomente.

Der mit Abstand wichtigste alpine Drehort in dieser Serie heißt jedoch Bad Gastein. Der österreichische Darsteller-Superstar Tobias Moretti durchschreitet dort als Chefarzt Georg Trotter acht Folgen lang eine Hochleistungs-Sportklinik. Trotter – früher Fußballprofi, dann als Arzt und „Bluthund“ der Dopingfahndung zur gefürchteten Berühmtheit geworden – zieht aus Nordengland in eine Villa im Salzburger Land. In Spiegelung der allgegenwärtigen Korruption im realen Fußball geht es um Geld, Macht, Manipulation, Aufputschmittel, junge Supertalente und ihre genetische Optimierung. Ein neues Enzym soll den jugendlichen Athleten Wunderkräfte verleihen – und nebenbei den greisen Gremiensportlern der Verbände das ewige Leben gewähren.

Die Postkartenidylle des k.u.k.-Kurbads im Gasteiner Tal ist – neben Liverpool – das hochästhetische zweite Zentrum der Story. Hier geht man schon von Natur aus permanent auf- oder abwärts. Ein für das Thema Vitalität also äußerst glaubwürdiger Ort im Talschluss, gesegnet mit Bädern und Heilquellen, in denen etwa Kaiserin Sisi unzählige Male aufgepäppelt wurde. Regisseur Andreas Prochaska („Das Boot“, „Das finstere Tal“ und „Alex Rider“ vergleiche Alpine Kultur, heimlicher Alpenfilm #18), verlegte das TV-Hospital hinter die denkmalgeschützte Monumentalfassade des ehemaligen Grand Hotel de l´Europe. Diese 115 Jahre alte Immobilie versprüht nach jahrelangem Leerstand heute auch in der Realität wieder auf einigen der zehn Etagen echtes Leben, mit Bars, Restaurants und Luxusapartments. Wenigstens in den Skiwintern.

Moretti alias Trotter trifft in der fiktiven Hightechklinik auf eine vollendet skrupellose Personnage rund um die Wissenschaftlerin Edmunda (Agata Buzek). Und kommt sich bald wie Goethes Zauberlehrling vor, weil erschreckend viele Mit-Chefs statt ihm selbst bestimmen, was in dem Krankenhaus passiert und was nicht. Wer verfolgt hier welches Ziel? Ein teuflisches Vabanquespiel nimmt seinen Lauf. Die Berge bleiben im Hintergrund – und spielen doch ihre große Rolle. Als heimliche Traumwelt, als vitaminöser Gegenentwurf zum mafiösen Fußballuniversum. Aus diesem Gefälle zwischen Idylle und Grauen bezieht die Serie ihren Thrill. Ganz wie die Wirklichkeit.

Text: Alexander Hosch

Das Netz – Prometheus; Regie Andreas Prochaska (Folgen 1-4) und sein Sohn Daniel (Folgen 5-8); mit zwei anderen Serien verzahnte Co-Koproduktion von MR-Film sowie ServusTV, ARD Degeto und Netz GmbH. Acht Folgen à 45 Minuten. Sofort in der ARD-Mediathek; TV-Ausstrahlung der ersten vier Folgen am 17. November (ARD), Teil fünf bis acht am 19. November, jeweils ab 20:15 Uhr.

Illustre Illusion

     In diesem Bild voller Bilder residieren links oben zwei Tänzerinnen, gemalt 1914 von Ernst Ludwig Kirchner. Rechts davon strahlt August Mackes Große Promenade aus dem selben Jahr. Gleich daneben, zu sehen nur im kleineren Bildausschnitt unten, scheint Pablo Picassos fast futuristische schwarze Frauenkopfskulptur von 1909 auf. Das eigentliche Gemälde hier aber ist von Karin Kneffel, es stammt aus dem Jahr 2022. Die beiden über hundert Jahre alten Vorbilder leuchten zwar in allen Farben, wohnen aber wie der Picassokopf nur als Kulissen neben den matt gepinselten Flechtsessel des Franz Marc Museums. Sie alle werden von einer dritten „Folie“ in den Hintergrund gedrängt: Von der virtuosen Illusion einer Glasfläche nämlich, auf der sich grandios und zentral die Spiegelungen der Bäume und der Scheibengucker draußen materialisieren. So vielschichtig ist Karin Kneffels Malerei, die zur Zeit – siehe links – ganz real unter den schlauchbootgroßen Hängeleuchten im von ihr auf mehreren Leinwänden dargestellten Franz Marc Museum in Kochel am See zu Gast weilt. Dort zu sehen: 30 meist großformatige Ölgemälde auf zwei Etagen, alle mit Bildern, Unter-Bildern und Über-Bildern. Sie werden durch die riesigen Panoramafenster überall von grandiosen Naturausblicken in die bayerische Voralpenlandschaft gerahmt.

      Vor 50 Jahren gab es schon den brillanten Amerikaner Chuck Close, und damals bewunderten die Leute auch bereits die Geniestreiche von Gerhard Richter. Wie aber können Künstler:innen heutzutage noch etwas Wichtiges zu Kunst und Technik des Fotorealismus beitragen? Karin Kneffel gelingt das. Mit Tricks, Fabrikationen, Täuschungen, Spiegelungen. Es sind kleine Lügen und verdeckte Wahrheiten mit Ansage. Illusionistische Kabinettstückchen, die mit viel Arbeitsfleiß und extremer Genauigkeit von ihr zuerst nach Fotos perfekt realistisch gemalt und dann mehrfach verfremdet werden. Die ehemalige Meisterschülerin von Gerhard Richter ist längst selbst Professorin an der Münchner Kunstakademie. Ein großer Spaß, wenn sie Richters berühmte „Betty“ in eigenen Werken abbildet (wie in Kochel zu sehen), einige ihrer Studenten davor drapiert, im Vordergrund aber eine „Glasscheibe“ hinzu erfindet, deren angelaufene Stellen jemand mit der Hand saubergewischt hat, um von draußen in den Museumsraum schauen zu können. Mit solchen Kniffen hält Kneffel die Ausstellungsbesucher auf Distanz zu ihren Motiven und zu den Bildräumen, die sie malt. Man soll alles betrachten, aber nicht darin versinken, sagt sie: Ins Riesenhafte vergrößerte goldene Wassertropfen oder schnell per Wischfinger gezeichnete Smileys auf der imaginären Scheibe, von der Putzkolonne eingeschäumte Fenster. Im Filmbeitrag in der Ausstellung erklärt die
Malerin anschaulich ihre Arbeitsweise. Die an sich schon tolle Schau wird weiter veredelt durch etwa 15 kubistische und expressionistische Originale der Moderne. Es sind exakt diejenigen, die Kneffel en miniature in ihre Bilder integriert hat: Einige Chagalls, Kandinskys, Kokoschkas, Klees, Picassos, Kirchners et cetera hängen und stehen also in Kochel gerade eins zu eins daneben. Und das ist dann keine Illusion.

Text und Fotos:  Alexander Hosch  

Karin Kneffel. Im Bild – Franz Marc Museum, Kochel am See, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, www.franz-marc-museum.de, bis 3. Oktober 2022

(Vom Münchner Hauptbahnhof fährt stündlich die Werdenfelsbahn. Zur Zeit Schienenersatzverkehr ab Seeshaupt am Starnberger See.)

 

Brutal schön

Kommt mir bloß nicht zu nah! – Günther Domenigs Steinhaus am Ossiacher See, Bauzeit 1983-2008.

Weiterbauen in den Alpen. Was das heißen kann, lässt manchem aktuell wieder die Haare zu Berge stehen. Jodeldidumpfdideldei. Viele sind deshalb mehr als froh, dass es neben den Heerscharen von schief gewickelten Traditionalisten (und einigen guten) auch noch alpine Architekten wie Günther Domenig gab, der von sich sagte: „Ein Bauherr, der mich einmal hatte, nimmt mich nie wieder.“ Schon speziell. Und irgendwie logisch, dass die wichtigste private Baustelle sein eigenes Haus in Kärnten wurde. Das Steinhaus am Ossiacher See.

Vor genau zehn Jahren starb der große Österreicher. Kann uns seine Architektur in einer Zeit der nachhaltigen, kostengünstigen, emissionsfreien Bauwerke noch viel sagen? Schwierig. Heute geht es ja eher um die Abkehr von einem superambitiösen Stil. Und neue Häuser sollten am besten gleich aus dem 3-D-Drucker herausfallen.

Wie ein Großmeister einer Geheimloge bat Günther Domenig 2004 zum Interview in eine der Glas-Stahl-Beton-Kanzeln seines futuristischen „Steinhaus“.

Was Domenig damals in seinem Steinhaus im Interview für AD Architectural Digest zu mir sagte, war bezeichnend für ihn: Kommt mir bloß nicht mit Normalität! Sein Stil war ultraindividuell und – auf sympathische und künstlerische Weise – maßlos. Er suchte perfekte Lösungen, die deshalb auch meist ziemlich teuer waren. Genau so wie das Steinhaus am Ufer des Ossiacher Sees, das er für sich selbst auf dem elterlichen Grundstück erbaute. Immer wenn nach einem Architekturauftrag seiner großen Büros in Graz und Wien Geld übrig war, fügte er dem Wohnhaus eine neue Kanzel aus Stahl oder einen Raum aus Glas und Beton an. Von 1982 bis 2008 werkelte er immer daran weiter und setzte – wie er in dem Interview sagte – mit diesem avantgardistischen Bau seine Kindheitserinnerungen an das Gebirge des Mölltals architektonisch um. Das Steinhaus verschlang über die Jahre gewiss Millionen. Unzählige Wochenenden verbrachte Domenig hier.

Heute sind Beton und Stahl alles andere als die Baustoffe der Stunde. Und das Formeninventar des Dekonstruktivismus, dem Domenig ein Leben lang anhing, entwickelte seine Verrücktheiten vor 20 bis 40 Jahren – gedanklich kilometerweit entfernt von der Ratio unserer effektiven Zeit. Auf Domenig bezieht sich heute aber etwa gern Ben van Berkel von UN Studio, der selbst in Graz gebaut hat. Er bewundert die skulpturale Eleganz der Grazer Schule und die ideelle Komponente der Schöpfungen.

Domenigs eigene Büros waren voller Zeichnungen der Wiener Aktionisten  – vor allem von Günter Brus. Dessen oft figurative, überbordene, phantasmagorische Bilder dürften maßgeblich für den 1934 geborenen Architekten gewesen sein – so wie die expressionistischen Ideen des Vorgängers Friedrich Kiesler oder die Utopien von Zeitgenossen wie Friedrich St. Florian, Feuerstein, Haus-Rucker Co, Raimund Abraham. Um 2000 setzte Domenigs große, erfahrene Firma einige Werke der nun weltberühmten Wiener Kollegen coop Himmelblau technisch um.

Auf den ersten Blick erscheint die Kunst- und Architekturlandschaft des Steinhauses an trüben Tagen leicht wie eine Materialmusterwand im Baumarkt. Aber aus der Nähe betrachtet wird sofort ein Gesamtkunstwerk draus.

Zu Domenigs bekanntesten Werken gehören neben dem brutalistischen Steinhaus das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, das Telekom-Center in Wien und die ehemalige Zentralsparkasse in Wien-Favoriten (heute: Haus Z) mit der charismatischen Knautschfassade sowie „Händen“ und „Därmen“ als Stützen oder Röhren.

Text und Fotos:  Alexander Hosch

Zu Domenigs zehntem Todestag beginnen in Österreich Mitte Juni vier Ausstellungen. unter einem gemeinsamen Titel. „Günther Domenig: Von Gebäuden und Gebilden. Dimensional“ ist ein mehrteiliges Projekt des Architektur Haus Kärnten (AHK), gemeinsam mit dem Land Kärnten, dem Museum Moderner Kunst Kärnten, der Steinhaus Günther Domenig Privatstiftung und der Heft/ Hüttenberg, kuratiert von section a. Die Hauptschau (bis 16. 10., Di-So 10-18 Uhr) ist im alten Eisenhüttenwerk Heft im steirischen Hüttenberg, das Domenig als Industriedenkmal umbaute.

www.domenigdimensional.at

Zeichen aus dem Allgäu

Das Erscheinungsbild von Olympia 1972: Wenn das gestalterische Wirken von Otl Aicher (1922-91) auch viel umfassender ist – selbst Laien wird mit diesem Highlight klar, wie sehr er für jedermann sichtbar in den Alltag hineinwirkte. Aicher, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern würde, während der Olympiade-Termin in München sich zum 50. Mal jährt, wird jetzt in Ausstellungen und Büchern neu vermessen.

Davor hatte Aicher in den 1950-er Jahren schon die Hochschule für Gestaltung in Ulm mitgegründet, deren Lehrer und Rektor er später wurde, sowie zahlreiche Firmen wie Erco, Bulthaup, Lufthansa und Braun als Gestalter beraten und mit einer Corporate Identity versehen – damals ein völlig neuer Begriff. Nach der Sommerolympiade 1972, deren vielfarbig gestreifter Waldi bis heute noch höchst lebendig als eine Art zusätzliches München Wahrzeichen existiert, zog es den Ulmer Otl Aicher in die Allgäuer Voralpen. In der Zurückgezogenheit mit stetem Blick auf die Berge entstand 1987 die Schriftfamilie Rotis. Sie ist Aichers einzige kommerzielle Schrift, deren schlichte Noblesse an die Schriften des Bauhauses anknüpfte. Sie sah sowohl mit wie auch ohne Serifen gnadenlos gut aus. Aicher hatte ein neues Leseverhalten ausgemacht und dafür eine Form gefunden.

Kaum beachtet ist bis jetzt, wie sehr sich Aicher im Allgäu auch architektonisch verwirklichte: Früh entwickelte er einen Sinn für Einfachheit, für Minimalismus und ein Leben mit der Natur, wie es heute für sehr viele Menschen ein Ideal ist. Im kleinen Ort Rotis bei Leutkirch – zwischen Memmingen und Wangen – kaufte er damals ein vier Hektar großes Grundstück und baute zwischen 1972 und 1976 rund um eine alte Mühle, ein steinernes Wohnhaus und einen Stall neue, teilweise aufgeständerte Atelierhäuser und Werkstätten aus Holz für sich, seine Familie und Mitarbeiter aus den Welten Fotografie, Typografie, Druckerei und Design.

„Rotis ist wie ein kleiner Campus, den man in die wunderschöne Landschaft von Schwaben gesetzt hat“, lobte der weltberühmte Architekt Lord Norman Foster, der mit ihm befreundet war, die Atmosphäre in Aichers kleinem Bau-Vermächtnis. Aichers Schreibtisch stand inmitten des Großraumbüros, er war immer zwischen allen anderen – streng und lustig, wie es heißt. In der sogenannten „Rotisserie“, dem ehemaligen Kuhstall, hat man zusammen gegessen. Oft wurden Sitzungen ins Freie verlegt.

Die aktuelle kleine, feine Münchner Schau „Otl Aicher 100“ im Pavillon 333 passt bestens zu Aichers Konzepten. Auch die Studenten der TU-Lehrstühle von Hermann Kaufmann und Florian Nagler haben 2021 in ihrer Architektur für das hölzerne, von einer durchsichtigen Polycarbonathülle und einem Textilvorhang umgebene Bauwerk zeitgemäße Zielsetzungen der Angemessenheit, Natürlich- und Zweckmäßigkeit verinnerlicht. Direkt vor der Pinakothek der Moderne kann man sich in der Türkenstraße noch bis 28. Mai einen Eindruck davon machen: Der Pavillon ist vorübergehend mit orangen Schalensitzen ausgestattet, die einst 1972 für die olympischen Regattarennen in Schleißheim aufgestellt waren, außerdem mit Aichers markantem Tisch-Entwurf, den berühmten Piktogrammen und vielen Details aus seinem Entwerferleben. Im Hochsommer gibt es für die sehr gelungene Ausstellung mit vielen Schautafeln, Möbeln, grafischen Entwürfen und Fotos einen zweiten Münchner Termin: im Kulturzentrum Pasinger Fabrik, zwischen 7. Juli und  14. August. Spätestens da sollte man hin.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

Ins neue Kaiserbad

In Bad Gastein tut sich was. Seit Jahrzehnten lümmeln im Zentrum starre, leere Riesen herum – morbide Luxushotel-Karosserien aus längst vergangenen besseren Zeiten. Jetzt künden Plakate endlich neue Unterkünfte für eine neue Zeit an. Inzwischen  gibt es sogar eine gesperrte Orts-Durchfahrt und richtige Kräne an der Baustelle rund um das Ensemble aus Grand Hotel Straubinger, Alter Post und Badeschloss. Das Land Salzburg hat 2018 einige der maroden alten Paläste mit den Zuckerbäckerfassaden gekauft – um sie flugs an Investoren weiterzureichen, die das unvergleichliche Setting nun bis 2023 für sich und ihre Vier- bis Fünf-Sterne-Services nutzen wollen. Hotels, Bars, Gyms, Spas. Her damit.

Das Panorama ist aber auch wirklich unkopierbar. Eine tiefe Schneise für den berühmten Wasserfall hat die Natur hier geschlagen. Drumherum baut sich malerisch ein steinerner, aber auch irgendwie sehr versteinerter Ort der Belle Époque auf. Darunter scheint einem das lange Tal die Traumaussicht bis nach Hofgastein und Dorfgastein unter den Augen wegziehen zu wollen. Darüber türmen sich die höchsten Salzburger Tauerngipfel. Ganz und gar zauberhaft. Und immer noch so, als hätte man das alles hier in jener Ära vergessen, in der die radonhaltigen Wasserquellen entdeckt wurden. Damals kam das aristokratische Europa von St. Petersburg bis Madrid hierher.

Im – heute ungenutzten – Kongresshaus mit den Glaskuppeln sang und tanzte zu Silvester 1982 Liza Minelli. Der aktuelle Besitzer träumt für den denkmalgeschützten Bau von einer Seilbahnlinie – oder einem Alpen-Campus.

Wann wird Bad Gastein wieder komplett wachgeküsst sein? Mal sehen. 65 Millionen Euro wurden 2018/19 in eine neue Seilbahn zur Schlossalm und zur Hohen Scharte im benachbarten Hofgastein investiert. Ebenfalls mit immer neuen Gimmicks locken Felsentherme und Alpentherme. Bars, Hütten und Hotels rüsten unermüdlich für das Wunschpublikum der Zukunft auf: jung, solvent, kosmopolitisch, urban.

Ein kleiner Teil davon ist schon da. Einige Barbetreiber und Hoteliers, die Gastein längst als Wintersport-Destination der Zukunft entdeckt haben, kosten mit ihren Gästen aus aller Welt – allesamt Ski-Desperados – den Zauber dieses alten Kaiserbades der Sommerfrischler aus dem 19. Jahrhunderts schon seit zwanzig Jahren aus. Die Boutiquehotels Haus Hirt, Miramonte und Regina etwa haben früh erkannt, dass Bad Gastein reif für junge Erlebnishungrige ist. Deshalb kommen seither ein paar Hipster aus Berlin, Moskau, Kyiv, London, Amsterdam und Kopenhagen. Für die sprechen einige der Angestellten „only english, please“, was an einem normalen Ski-Nachmittag im März zwar ein wenig albern klingt, aber immerhin gut zum Lese-Angebot auf dem Coffeetable passt: Monocle, Wallpaper, Financial Times. Da will der Ort also hin. Gut so! Das Karma, die Speisekarten – Earl Grey Tea zu Marillen-Palatschinken – und die ersten chicen Interiors sind bereit dafür. So bereit.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

 

 

Tagespass Ski amadé Gastein (Hauptsaison):  63,50 €

Zum Saisonende: 59 €  (ab 19. März)

Bilder: Preimskirche, brutalistisches Kongresshaus von 1974, barocke Fassadendetails, Front und Interiors des Hotels Miramonte

Alex Rider (TV-Serie, 2020)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm  #18

 

Der 16-jährige englische Schüler Alex Rider ist ein großer kleiner James Bond. Auf der Basis eines Romans der gleichnamigen, bis jetzt 13-teiligen Jugendbuchreihe von Anthony Horowitz wurde 2019 die erste Staffel der TV-Spionageserie „Alex Rider“ gedreht. Alex (gespielt von Otto Farrant) wird darin – unfreiwillig – zum MI6-Mitarbeiter. Ein Teil der acht Episoden spielt in London. Der Rest wurde in ein Eliteinternat namens Point Blanc verpflanzt – scheinbar ein Hilfe-Ort für Problemkinder der Superreichen in aller Welt. Dort wird Alex von seinen neuen Chefs im Geheimdienst als Eleve eingeschleust. Seine Mission: Herauszufinden, warum in Point Blanc wundersame Dinge geschehen. So mogelt sich auch noch eine gehörige Portion Harry-Potter-Charme in den Agenten-Cocktail.

Uns faszinierte hier auch das ästhetische Drumherum dieses spannenden und hochaktuellen Coming-of-Age-Plots: Denn das Gebäude Point Blanc ist eine verstörend dramatische Mixtur aus Ritterburg und Art-déco-Palast, himmelhochalpin und extra-malerisch zwischen der Schweiz und Frankreich gelegen. Lässig und locker durchpflügt der blonde Alex die Tiefschnee-Umgebung des einsamen Internats mit seinem umfrisierten Bügelbrett, das ihm als Snowboard dient. Bis ihn die rasend schnellen Snowmobiles der schwerst bewaffneten Schulwächter verfolgen, die die Vorzeige-Nichtsnutze von Point Blanc angeblich nur bewachen. Die weiträumige weiße Wüste rund um das monumentale Schulschloss – Kenner denken sofort an Skigenüsse in der seidigen Freerider-Pracht der drei Täler rund um Courchevel und Méribel – wird für Alex Rider zur Action Art zwischen Wintersturm und Kugelhagel. In puncto Effektkunst und Drehbuchwitz steht die Serie dabei den besten adulten Thriller-Abenteuern in nichts nach. Bald kommt Alex einem düsteren Klon-Geheimnis und einer grandiosen Machtstreberei und Weltverschwörung auf die Spur.

Als wäre es von Robert Mallet-Stevens entworfen: das teuflische Internat Point Blanc

Verblüffend ist, dass die Hochalpenkulisse, durch die der Held vor den Schneemobilen flüchtet, die Gipfel Frankreichs und der Schweiz lediglich nachbildet. In Wahrheit nämlich gab Sinaia, das größte Skigebiet Rumäniens, das prachtvolle Filmpanorama ab. Das Setting soll dort von der Crew viel günstiger einzufangen gewesen sein als an allen Schweizer oder französischen Schauplätzen rund um Mont Blanc und Matterhorn. Leider glaubhaft. So schlugen die Regisseure Andreas Prochaska und Christopher Smith also den umgekehrten Weg ein, den 1967 Regie-Superstar Roman Polanski ging, als er seinen Dracula für Tanz der Vampire real nachts in den Dolomiten aufweckte statt in Transsylvanien. Alex Rider wurde in Teilen nahe Sinaia, der Perle der Karpaten, gedreht – um die Savoyer Alpen mit Hilfe von rumänischem Schnee darzustellen. Sehr tolle Serie in extrem beeindruckendem Setting. Nicht nur für die vielen Fans der Horowitz-Jugendbücher geeignet. Es gibt zwei weitere Staffeln.                         TEXT:      Alexander Hosch

Alex Rider ist eine Produktion von Eleventh Hour Films und Sony Pictures Television für Amazon Prime und IMDb TV. Bis 13. Februar ist Staffel 1 der Serie in der ZDF-Mediathek zu sehen, danach weiterhin in Amazon Prime. Staffel 2, mit ebenfalls acht Episoden zwischen 43 und 45 Minuten, startete im Dezember 2021 bei Amazon Prime Video. Staffel 3 ist abgedreht (in Deutschland zu sehen vermutlich ab Ende 2022).

Die Screenshots stammen aus Trailern in der ZDF-Mediathek und von Amazon Prime.

Fan-Website  www.alexrider.fandom.com (dort auf „Point Blanc“, dann auf „Point Blanc Academy“ klicken): Infos zu den inneren Werten des Gebäudes – Grundriss, Ästhetik, Raumplan.

Auf der Streif nach dem guten Essen

Das neue Restaurant Berggericht

Tiroler Expressionismus als Tafel-Bild

In Kitzbühel gibt es ein nagelneues Restaurant im ersten Stock eines Stadthauses. Keiner geht dort hin, nur um einen kleinen Appetit zu stillen. Das Berggericht ist ein Lokal, das spürbar etwas vor hat. Edel, achtsam und kultiviert. Es verzichtet sogar auf einen Gastgarten, so dass die Gäste sich an 36 Sitzplätzen voll und ganz auf ihre Speisen, die Weine aus eigenen Gütern des Besitzers in Franken und Stellenbosch sowie auf ihre Begleiter:innen konzentrieren. Das freundliche Ambiente mit den gepolsterten Bänken fördert wie automatisch das gute Tischgespräch. Niemand will aus diesem Laden freiwillig rasch wieder aufbrechen.

Konzept ist, dass es stets sieben Gänge gibt. S-i-e-b-e-n! Keiner davon ist, was er im ersten Moment zu sein scheint. Spannend. Die Überraschung ist also Dauergast. Ein Gulasch kann hier wie ein Gebäckstück mit Schokoladenguss aussehen – oder wie ein Mini-Burger. Vor dem regulären Menü gibt es immer ein paar Amuse-gueules, danach einige Desserts. Alles – auch die Hauptspeise – ist sehr fein tariert, so dass man sich nie voll fühlt.

Streifabfahrt vor dem Kaisergebirge

Die Eröffnung wurde wegen Corona ein paar Mal verschoben. Im November 2021 war es aber so weit. Wir kamen etwa vier Wochen danach. Trotz des notwendigen Blitzstarts der österreichische Gastronomie nach dem Dezember-Lockdown (zwei Tage zuvor) saßen Motivation und Leidenschaft in jedem einzelnen Gericht, egal ob Aal, Hummer oder Spinatravioli. Grassierender Personalmangel? Nicht hier! Das kleine Team arbeitete mit extremer Disziplin und Passion. Manche Hors d´oeuvres, Hauptgänge, Petits fours sahen fast so eindrucksvoll aus wie Mikroausdrücke in der Psychologie – ein virtuoses Spiel aus Analogie, Minimalismus und Konsistenz, Qualität und Ästhetik. Geschmackliche Höhepunkte waren ein XO Alm OX (Dry aged Rinderfilet mit Pfeffersoße, Speckbohnen und Pommes) und – von der Pâtissière – ein Haselnuss-Mandel-Milch-Gemisch. Hans Hanner war in Mayerling bei Wien ein 4-Hauben- plus 2-Sterne-Koch, ehe er ins Berggericht wechselte. Er möchte bald genau da hin, wo er vor der rauen Coronazeit war: zu den Sternen!

Das Berghaus Tyrol – ein Bau von Alfons Walde in maßvoller Moderne – war mal ein Ferienhaus und ist heute ein Pistenlokal.

Am nächsten Tag in Kitzbühel, auf der Piste, ist dann ein einfaches, bodenständiges Backhendl die ideale Ergänzung. Am besten im Berghaus Tyrol. Dessen Architektur – mit Holzschindelfassaden, Pultdach, schlichter Gliederung und Traumaussicht – wurde einst als Feriendomizil Haus Lopez gestaltet, von den feinen Händen des Kitzbüheler Malers und Architekten Alfons Walde (1891-1958). Von so was träumen übrigens all die Menschen wirklich, die immer von sich behaupten, sie würden gern in einem Tiny house leben: ein gemütliches Haus in der Natur ohne Schnickschnack, aber mit viel Aussicht und genügend Platz. Das Lokal mit Panoramaterrasse liegt nur knapp überhalb des Hahnenkamms. Die beiden Stationen für dessen Bergbahn hat Walde übrigens auch gebaut, schon 1927. Durch sie gleiten auch dieses Jahr wieder alle Skistars der Welt zum Starthäusl der beiden Streifabfahrten.

Text und Fotos:   Alexander Hosch

Mehr Infos zu den Kitzbüheler Häusern von Alfons Walde, gibt es hier: Olivia Hromatka: Der Architekt Alfons Walde im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, 2016, Klein Publishing GmbH, 38 Euro, ISBN 978-3-903015-06-7

Aktuell:  Unsere Reisegeschichte über Kitzbühel sowie den Maler und Architekten Alfons Walde, der mehrere Häuser auf dem Hahnenkamm erbaut hat, ist in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16. Januar 2022 erschienen.

Aktuell 2:  Die FIS-Skirennen auf der Streif (Abfahrten) und am Ganslernhang (Slalom) finden von 21.- 23. Januar 2022, statt.

https://www.berggericht.at/de

https://hahnenkamm.com/news/

Libeskinds Shopping-Zacken in Bern



#13     Und schon wieder dran vorbei gefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es alte und neue Architekturen, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer sich je die Zeit nahm, dort mal stehen zu bleiben. Wir haben sie besucht.

Objekt  Einkaufs- und Erlebniszentrum Westside / Adresse  Riedbachstraße 100, CH-3027 Bern-Brünnen / Koordinaten  N 46°56.708’, O 007°22.425’ / Bauzeit  2006-2008 / Bau-Grund   Die Schweizer wollen mehr Spaß! / Aktuelle Nutzung  65 Läden, 14 Restaurants, 11 Kinos, 1 Hotel, 1 Erlebnisbad mit Riesenrutschen und Spa / Öffnungszeiten  Einkaufcenter www.westside.ch;  Erlebnisbad www.bernaqua.ch / Schönster Augenblick  Wenn die rote Außenrutsche wie eine Riesenkrake zwischen den glänzenden Silberzacken hindurchmäandert, kurz bevor man mit dem Auto in den Tunnel abtaucht.

Warum man immer dran vorbeifährt:  Weil doch die Ski auf dem Autodach schnellstmöglich ins Berner Oberland wollen und man den Bernern außerdem vor Weihnachten gar nichts wegkaufen will. Schluck! Hoffentlich sehen die Kinder im Vorbeifahren die Rutsche nicht…

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss:  Kurz nach der Jahrtausendwende hieß es plötzlich: Der Architekt Daniel Libeskind baut jetzt ein Kaufhaus! Unmöglich? Bald sah man auf dem Weg in den Süden das Unwahrscheinliche – und, Überraschung, die silberzackige Erweckungsarchitektur passt nicht nur zu jüdischen Museen, sondern auch zum Konzept einer Autobahn-Mall. Hingewürfelt wie ein Weltraumbahnhof für Sternenkrieger legt das polygonale Vergnügungs-Agglomerat der Migros-Kette seine Fangnetze aus. Nun fliegen dort aus 17 Metern Höhe Magic Eye, Black Hole und Emotion Ride in die Tiefe, die höchsten Rutschen der Schweiz. Es gibt ein Bad mit 18 Innen- und Außenbecken samt Silbertreppen sowie Wildwassercanyon. Und Papa kann in die Sauna gehen, während die anderen rutschen oder shoppen. Nebenan lässt sich unter Kinofilmen, Geschäften, Fresstempeln wählen. Rechts, links, oben, unten – gleich neben dem Weihnachtsbaum! Die schicken roten Corona-Hocker im Bild oben gibt es hier übrigens schon seit
Jahren. Augen machen kann auch, wer den dekonstruktivistischen Fahrrad-Parkplatz sieht. Dessen schräge Pfeiler halten Daniel Libeskinds Architektur-Versprechen: Niemals langweilig!

Wie man hinkommt: Das Westside liegt an der Autobahn A1 zwischen Bern und Murten-Neuchâtel. Nehmen Sie die Ausfahrt Nr. 32 Bern-Brünnen.

copyright Idee, Text und Bilder: Sabine Berthold & Alexander Hosch